Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Struktureller Rassismus Lauter Protest nach Rassismus-Studie in Großbritannien

Von|
No justice, no peace: „Black Lives Matter“-Demonstration vor dem britischen Parlament.
No justice, no peace: „Black Lives Matter“-Demonstration vor dem britischen Parlament. (Quelle: James Eades)

Seit Monaten wird in Deutschland von der Zivilgesellschaft eine Studie über Rassismus in der Polizei gefordert. Der Innenminister Horst Seehofer weichte bislang solchen Forderungen aus, er kündigt stattdessen eine Studie zum „Polizeialltag“ oder eine breiter angelegte Untersuchung über Rassismus in der Gesellschaft an. In Großbritannien wurde Ende März 2021 eine solche Studie vorgelegt: Ein Bericht der 2020 vom Premierminister Boris Johnson ins Leben gerufene „Commission on Race and Ethnic Disparities“ sollte Rassismus und ethnische Ungleichheiten im Land untersuchen. Nach dessen Veröffentlichung gibt es nun lauten Protest. Boris Johnsons Rassismus-Berater, der hochrangigste schwarze Berater in seiner Regierung überhaupt, Samuel Kasumu, ist zurückgetreten. Auf der Insel hagelt es Kritik.

Der Backlash ist nachvollziehbar: Der 258-seitige Bericht kommt zu dem Schluss, dass es in Großbritannien keinen institutionellen Rassismus gebe, der Begriff sollte nicht so häufig verwendet werden. Vielmehr seien sozioökonomische Faktoren schuld an der ethnischen Ungleichheit in der Gesellschaft, auch wenn der Bericht diese herunterspielt. Stattdessen sei etwas Optimismus gefragt: Denn zu viele Menschen in progressiven und antirassistischen Bewegungen würden sich sträuben, ihre eigenen Leistungen im Kampf gegen Rassismus anzuerkennen, heißt es. Der Bericht wirft „gut organisierten interessensparteilichen identitätspolitischen Lobbygruppen“ vor, „pessimistische Narrative“ über Rassismus mit „überemotionalisierten, nicht-datenbasierten Ansätzen“ zu streuen.

Obwohl die Untersuchung als Antwort auf die „Black Lives Matter“-Proteste in Großbritannien im Sommer 2020 in Auftrag gegeben wurde, kritisiert der Bericht die antirassistische Bewegung mit einem paternalistischen Ton: Es ist von einem „gutgemeinten Idealismus“ junger Menschen die Rede, die behaupten würden, alles habe sich nur verschlechtert – und das, so schlussfolgern die Autor*innen, führe lediglich dazu, die „anständige Mitte“, bestehend „aus allen Ethnien“, abzuschrecken.

An anderer Stelle, die für große Kontroversen sorgt, wird der britische Kolonialismus in der Karibik als „Caribbean experience“ verharmlost. Es ginge nicht nur um „Profit“ und „Leid“, sondern, so der Bericht, auch um die „kulturelle Entwicklung“ von Afrikaner*innen in „afrikanische Brit*innen“. „Wir wollen sehen, wie Britishness das Commonwealth und lokale Communities beeinflusste“ und umgekehrt, heißt es. Halima Begum, Vorsitzende des antirassistischen Thinktanks „Runnymede Trust“, kritisierte die Relativierung gegenüber dem Guardian: „Ich bin vollkommen verblüfft, dass der Sklavenhandel offenbar als ‚Carribean Experience‘ neu definiert wird, als sei es ein Angebot von Thomas Cook – eine einfache gefesselte Kreuzfahrt zum Fegefeuer.“

Auch das Thema Bildung im Bericht ist sehr umstritten. Die Autor*innen behaupten, dass Bildung die größte Erfolgsgeschichte für ethnische Minderheiten in Großbritannien gewesen sei. Das steht in starkem Kontrast zum Alltag vieler nicht-weißer Brit*innen: Einer Studie des Guardian zufolge wurden in den vergangenen fünf Jahren mehr als 60.000 rassistische Vorfälle in britischen Schulen verzeichnet. Die Zahl geht aus einer Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz hervor. Die Zeitung geht davon aus, dass diese Statistik lediglich die Spitze des Eisbergs ist.

Die Kritik am Bericht wird laut: Hunderte Wissenschaftler*innen und Expert*innen widersprechen den Ergebnissen des Berichts oder fühlen sich falsch wiedergegeben. Sie werfen den Autor*innen unter anderem vor, Teile ihrer Forschung, die sich mit strukturellen Rassismus befassen, ignoriert zu haben. Professor Michael Marmon von der University College London, der im Bericht zitiert wird, bemängelt zum Beispiel, dass seine Forschung bereits belegen konnte, dass die überproportional hohen Totenzahlen unter schwarzen und (britisch-)asiatischen Menschen während der Covid-19-Pandemie durchaus strukturelle Gründe hat. Im Bericht, der sich auch dem Thema Gesundheit widmet, kommt diese Tatsache allerdings schlicht nicht vor. Im Gegenteil: Eine strukturelle oder institutionelle Analyse von Rassismus in Großbritannien wird als Übertreibung verworfen.

Einen ähnlichen Tenor der Kritik hört man aus den Reihen der Opposition im Parlament, in den Gewerkschaften und NGOs, und auch von Aktivist*innen. Schwarze Unternehmer*innen sowie Unternehmer*innen aus ethnischen Minderheiten, die im Laufe der Untersuchungen zum Thema Rassismus und Ungleichheit befragt wurden, kritisieren, dass ihre Empfehlungen von der Kommission schlicht ignoriert wurden.

Selbst Simon Woolley, der bis Sommer 2020 die „Commission on Race and Ethnic Disparities“ leitete, findet scharfe Worte nach der Veröffentlichung des Berichts: Die Kommission respektiere nicht und missachte die gelebte Erfahrung von Betroffenen. Dem Guardian sagte Woolley: „Wenn man den strukturellen Rassismus leugnet, dann hat man nichts zu tun und das ist an sich schon ein großes Problem.“ Er betont, dass es schon vor Covid-19 und Black Lives Matter strukturellen Rassismus gegeben habe, in allen Bereichen und auf allen Ebenen unserer Gesellschaft. „Es gibt schockierende Ungleichheiten und Folgen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Wohnen. Das ist der Grund, warum wir die Kommission überhaupt gegründet haben.“

Der Mann hinter dem umstrittenen Bericht ist Tony Sewell, dessen Eltern in den 1950er-Jahren aus Jamaica ausgewandert waren. Dieser Hintergrund wird auch eine Rolle für die Ergebnisse des Berichts gespielt haben: Sewell wuchs in Südlondon der 1960er und 1970er Jahre auf, seine Eltern gehörten der sogenannten „Windrush Generation“ an, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf Schiffen aus der Karibik nach Großbritannien auswanderten. Seitdem ist im Kampf gegen Rassismus tatsächlich viel passiert: das Großbritannien von heute ist gesellschaftlich ein anderes, vielfältigeres Land als damals. Doch das heißt längst nicht, dass es keinen strukturellen oder institutionellen Rassismus gibt, wohl aber, dass unterschiedliche Generationen das Problem auch verschieden wahrnehmen.

Sewell ist Geschäftsführer von „Generating Genius“, einer Wohltätigkeitsorganisation für Bildung. Mit Boris Johnson arbeitete er bereits zusammen, als Johnson noch Londoner Bürgermeister war und er Sewell 2012 damit beauftragte, einen Bildungsausschuss zu leiten. Im Juli 2020 wurde er von der konservativen Regierung unter Boris Johnson zum Vorsitzenden der „Commission on Race and Ethnic Disparities“ berufen, der rassistische Ungleichheit untersuchen sollte. Seine Ernennung wurde damals unter anderem vom britischen Zentralrat der Muslim*innen kritisiert, weil es die Befürchtung gab, er würde die rassistische Ungleichheit im Land herunterspielen (vgl. BBC). Mit der Veröffentlichung des Berichts hat sich dieser Verdacht nun bestätigt.

Es ist nicht die erste Kontroverse in seiner Laufbahn: 1990 schrieb Sewell über Homosexuelle in einer Zeitungskolumne, er habe es gründlich satt von „gequälten Queens, die in ihren Schränken Verstecken spielen“. Erst 2020 hat er sich für die Kolumne entschuldigt, nachdem der Guardian darüber berichtete. 2006 behauptete Sewell, Schuljungen würden durchfallen, weil Unterrichte „zu verweiblicht“ seien. Bereits 2010 zweifelte er strukturellen Rassismus in seinen Artikeln an. Seine Ernennung zum Vorsitzenden der Kommission wirft also einige Fragen auf.

Am Ende bleibt eine Studie, die offenbar vor allem ein Ziel hat: Großbritannien nach dem Brexit als Vorbild im Kampf gegen Rassismus zu inszenieren und die koloniale Vergangenheit des Landes schönzureden. Das soll Deutschland als Warnung dienen: Ob in der Polizei oder in der Gesellschaft, eine Rassismus-Studie muss unabhängig sein und die Empfehlungen und Analysen von Wissenschaftler*innen und Expert*innen ernst nehmen. Dass Innenminister Horst Seehofer bislang nur eine Studie mit dem Fokus auf den „Polizeialltag“ in Bezug auf Rassismus, in anderen Worten also eine „Rassismus-Rechtfertigungsstudie“, in Auftrag gegeben hat, die ausgerechnet von der Deutschen Hochschule der Polizei durchgeführt werden soll, ist mehr als bedenklich (vgl. NDR). Denn eine Rassismus-Studie soll kein Freispruch sein.

Weiterlesen

Die Blauen wollen die Blauen nicht: GdP beschließt Unvereinbarkeitserklärung für AfD Mitglieder

GdP-Beschluss AfD für größte Polizeigewerkschaft zu rechts

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) beschloss am vergangenen Freitag eine Unvereinbarkeitserklärung für Mitglieder und Unterstützer*innen der AfD. Die rechtsradikale Partei ist empört, der Beschluss wird vom Brandenburger Landesverband der GdP kritisiert.

Von|
Eine Plattform der