Der Berliner Fußballverband (BFV) will seine Rolle im Nationalsozialismus wissenschaftlich aufarbeiten lassen. Bereits auf einer Gala, die zum 125-jährigen Bestehen 2022 stattfand, kündigte der Verband eine Studie an. Fertig sein soll sie zur Fußball-Europameisterschaft, die im Sommer 2024 in Deutschland ausgetragen wird. Der BFV ist der erste Landesverband Deutschlands, der ein derartiges Vorhaben umsetzt und sich so klar positioniert.
Zum Zeitpunkt der sogenannten „Machtergreifung” der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 waren etwa 11 Prozent der circa 550.000 in Deutschland lebenden Jüdinnen*Juden in Sportvereinen aktiv. Unmittelbar nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begannen die Nationalsozialist*innen mit der Diskriminierung der Jüdinnen*Juden in allen gesellschaftlichen Bereichen. Sport war keine Ausnahme. Die deutschen Sportvereine beschlossen „Arier-Paragrafen“. Das geschah aus vorauseilendem Gehorsam, denn eine zentrale Vorgabe der Nazis gab es nicht. Von nun an waren Jüdinnen*Juden gezwungen, sich ausschließlich in eigenen, jüdischen Vereinen zu organisieren.
1933 lösten sich der „Verband Brandenburgischer Ballspielvereine“ (VBB) sowie der damals ebenfalls in Berlin ansässige „Deutsche Fußball-Bund“ (DFB) auf. Die Organisationsstrukturen des deutschen Fußballs unterwarfen sich bereitwillig den neuen Herrschern. Sie passten sich der nationalsozialistischen Diktatur an und ließen sich gleichschalten. Der DFB wurde in den 1934 proklamierten „Deutschen Reichsbund für Leibesübungen“ (DRL) überführt. Die Organisation des deutschen Fußballs folgte nun auch dem „Führerprinzip“ der Nazis.
Inhalte der Studie sollen Biografien einzelner Fußballer und Funktionäre, Porträts von Vereinen und eine Betrachtung des Spielbetriebs und der Sportorganisation sein. Der Betrachtungszeitraum der Studie beginnt ab etwa 1929 und reicht bis in die Nachkriegszeit im Jahre 1949.
Der Berliner Fußballverband kooperiert für die Studie mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Unter der Leitung von Dr. Marcus Funck, der Teil des Lenkungsgremiums der Studie ist, fand dort im Sommersemester 2023 ein Seminar statt, in dem Studierende ihre eigenen Nachforschungen anstellen und Texte verfassen konnten, die in die Studie einfließen werden.
Mit den Studienleitern Daniel Küchenmeister und Thomas Schneider haben wir über jüdische Fußballer, verschollene Quellen und Lektionen für die Gegenwart gesprochen.
Belltower.News: Warum hat es so lange gedauert, bis mit der Aufarbeitung der Geschichte des Berliner Fußballs im Nationalsozialismus begonnen wurde?
Die Geschichte des Fußballs ist schon seit vielen Jahren Gegenstand kritischer Aufarbeitung. Angestoßen wurde diese durch einzelne Publizisten, Fan-Initiativen und engagierte Mitglieder in Verbänden und Vereinen. Auch der BFV setzt sich seit langem mit seiner Vergangenheit auseinander. Vor über zehn Jahren wurde dieses Bemühen deutlich intensiver.
Herausragend ist in diesem Zusammenhang sicherlich die offizielle Erklärung aus dem Jahr 2022, in der sich der Verband klar und unmissverständlich zu seiner Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus äußert. Der BFV hat sich darüber hinaus mit einem Präsidiumsbeschluss zur intensiven und kritischen Aufarbeitung der Geschichte des organisierten Berliner Fußballs zwischen 1933 und 1945 bekannt und die Aufgabe gestellt, eine fundierte wissenschaftliche Studie zu beauftragen.
Welche Widerstände gab es? Mit den 68ern war das Schweigen zur Nazizeit ja gebrochen, sollte man meinen.
Die Impulse zur kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle des Sports in der NS-Diktatur und der Verantwortung seiner Funktionäre und Aktiven kam lange Zeit nicht aus den Verbänden. Es waren sehr häufig Intellektuelle, die sich hier verdient machten. Man kann vielleicht sogar behaupten, es waren fußballbegeisterte 68er!
Der deutsche Fußball – genauer formuliert der im DFB organisierte Fußball – versagte über Jahrzehnte in dieser zentralen Frage unserer Gesellschaft. Erst mit der Vergabe des Julius-Hirsch-Preises 2005 und der sogenannten Havemann-Studie, die vom Verband in Auftrag gegeben wurde und wenige Monate vor der Fußball-WM in Deutschland 2006 erschien, änderte sich die Situation.
Neben der Aufarbeitung der Vergangenheit soll die Studie auch Handlungsoptionen für die Zukunft hervorbringen. Wie könnte das in der Praxis aussehen?
Wir werden uns zum Beispiel der Frage stellen, welche Projekte der Sportorganisationen und Fan-Initiativen zur Geschichte nachhaltig die aktuelle Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus und Diskriminierung beeinflusst haben. So können wir Empfehlungen für die zukünftige Arbeit des BFV und seiner Vereine sowie die Kooperation mit vielfältigen Initiativen formulieren. Wir sind der Überzeugung, dass auch die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur und insbesondere die Rolle des Fußballs in der NS-Zeit ständig weiterentwickelt werden muss, ohne gewonnene Grundpositionen aufzugeben. Allein die Tatsache, dass jede Generation eigenes Erleben hat und eigene Fragen formuliert, scheint uns bedeutsam.
Können Sie genaueres zu Themen und Inhalt der Studie sagen?
Zuallererst wollen wir natürlich den Verband und die in ihm handelnden Akteure in den Blick nehmen, aber auch die Mitgliedsvereine. Dann gilt es die Opfer zu betrachten, also die ausgeschlossenen Mitglieder, die zwischen 1933 und 1945 ausgegrenzt, entrechtet, verfolgt und ermordet wurden – also in erster Linie Jüdinnen*Juden, aber auch die Arbeitersportler etc. Wichtig an der Stelle ist auch, dass wir nicht nur die Zeit der NS-Diktatur im engeren Sinne beleuchten wollen, denn es gibt historische Kontinuitäten, also eine Vorgeschichte vor 1933 und eine Nachgeschichte nach 1945.
Viele Originaldokumente sind im Laufe der Zeit verschollen oder wurden zerstört. Woher stammt das Material und die Quellen, die für die Studie ausgewertet werden?
Im ersten Arbeitsschritt werden die bisherigen Publikationen zum Thema ausgewertet. Hier reicht die Spanne von klassischen Monografien und Biografien über Artikel in Fachzeitschriften und Zeitzeugenberichten bis hin zu zeitgenössischen Sportzeitungen und Festschriften der Vereine. Wesentlich aber sind die Dokumente in den Archiven wie dem Bundesarchiv oder dem Berliner Landesarchiv. Schwierig ist die Forschung vor allem, weil ein Archiv des Berliner Fußball-Verbandes nicht existiert und die Sammlungen der Vereine sehr lückenhaft sind bzw. schlicht nicht existieren. Die Quellen der Sportgeschichte sind in der Regel verstreut, unvollständig und wenig systematisch. Der Reiz unserer Studien liegt für die Wissenschaftler*innen neben der inhaltlichen Herausforderung so auch in der Suche nach den Materialien.
Was ist zur Veröffentlichung der Studie geplant?
Ende 2024 wollen wir eine Publikation vorlegen, die durch Einzelbeiträge, Dokumente, Fotografien und eine ausführliche Einführung die wissenschaftlichen Ergebnisse präsentiert. Wichtig ist allen Kolleg*innen des Projekts, in diesem Buch pointiert zu argumentieren. Wissenschaftliche Solidität und lesbarer Stil für ein breites Publikum sind für uns bei dieser Publikation keine Widersprüche, sondern eine zentrale Aufgabe.
Zuvor ist jedoch eine Veröffentlichung von ersten Ergebnissen im Vorfeld der Europameisterschaft 2024 geplant. Wir wollen auf einer öffentlichen Veranstaltung die Gelegenheit nutzen, wesentliche Erkenntnisse vorzustellen. Es ist aber auch unsere Absicht, vor dem großen Sportereignis Stellung zu beziehen. Die Studie soll ja nicht nur das historische Geschehen rekonstruieren, sondern vor allem Anregungen für die Gegenwart geben und der Auseinandersetzung mit Rassismus, Diskriminierung, Ausgrenzung und Antisemitismus Impulse verleihen.