Reihen von schwer bewaffneten und mit Camouflage ausgestatten Truppen der Nationalgarde bewachen das Regierungsviertel in Washington DC. Sie sind auf den Treppen vor Denkmälern und Regierungsgebäuden strategisch positioniert. Sie sind ausgerüstet für den Bürgerkrieg. Sie stehen bereit. Diese Bilder stammen nicht vom Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021, sondern vom 2. Juni 2020. Damals fanden bundesweite Proteste der „Black Lives Matter“-Bewegung statt, nachdem der Afroamerikaner George Floyd am 25. Mai von dem Polizisten Derek Chauvin ermordet wurde. An diesem Tag verlief die Demonstration überwiegend friedlich.
Vorspulen, etwa sieben Monate später: Präsident Trump will seine Niederlage in der US-Wahl nicht akzeptieren. Er ruft zu Protesten gegen das Wahlergebnis auf, am Tag der Wahlbestätigung im Kongress. Seine Fans „müssen Stärke zeigen“, sollen „verlangen, dass der Kongress das Richtige tut“. Seine Worte haben einen anstachelnden Effekt. Die Demonstration trägt der Titel: „Save America Rally“. Für viele seiner Anhänger*innen ist klar: Die USA sei in Gefahr und müsse gerettet werden. Um jeden Preis. Hier geht es ums Ganze.
Der Kontrast zwischen diesen beiden Tagen könnte kaum enormer sein: Trump-Anhänger*innen werden von den Behörden offenbar nicht als Gefahr eingestuft, die Hauptstadt wirkt vollkommen unvorbereitet auf die gewalttätigen Ausschreitungen, die Stunden später folgen werden. Nach einem Jahr, in dem der systematische Rassismus im Land den medialen Diskurs stark geprägt hat, hat das einen besonders bitteren Beigeschmack. Anders kann man das wohl nicht erklären: Der Trump-Mob hat das Privileg, weiß zu sein. Sie stürmen das Parlamentsgebäude und können größtenteils unversehrt davon wieder weglaufen.
In Videos von dem Angriff auf das Kapitol sind schlecht ausgerüstete Beamte der „Capitol Police“ zu sehen, die überfordert und gar ängstlich wirken, als die Masse auf sie zurennt. Andere Beamt*innen lassen den Mob aktiv durch, indem sie Absperrungen aufmachen und den Weg freimachen. Was folgt, ist ein Stück politischer Geschichte mit enormer symbolischen Kraft, gestreamt in Echtzeit auf Social Media: Das Kapitol wird gestürmt. Besonders auffällig ist allerdings, dass die Stürmer*innen einfach wieder aus dem Gebäude herausspazieren dürfen. Kein Polizeikessel, keine Identitätsfeststellung, nichts. Manche jubeln in die Kameras, als sie wieder gehen. Viele sagen, sie werden wieder kommen. „Das nächste Mal aber nicht so friedlich!“, brüllt einer. Fünf Menschen sind gestorben.
Die Gefahr, die von Trumps Fangemeinde ausgeht, wird immer wieder drastisch unterschätzt. Und das ist fatal. Denn diese Mischung aus bewaffneten Militia-Mitgliedern, durchgeknallten QAnon-Gläubigen, aufgeregten Waffennarren und klassischen organisierten Rechtsextremen ist explosiv – wortwörtlich. An diesem Tag in DC wird eine Rohrbombe vor dem Republican National Committee, der Parteizentrale der Republikaner unweit des Kapitols, gefunden. Auch das Democratic National Committee muss evakuiert werden, nachdem ein ähnliches verdächtiges Paket vor dem Gebäude sichergestellt wird. An dieser Stelle muss man klar betonen, worum es hier geht: rechtsextremen Inlandsterrorismus. Das FBI hat mittlerweile bestätigt, dass beide Bomben scharf und gefährlich waren. Die Bundesbehörde hat nun ein Foto des mutmaßlichen Täters veröffentlicht mit einer Belohnung von bis zu 50.000 Dollar für Hinweise und Information.
Auch wenn die zwei Bomben entschärft werden konnten, endet der Tag dennoch tödlich: Die 35-jährige QAnon-Anhängerin, Trump-Fan und Luftwaffe-Veteranin Ashli Babbitt wird von der Polizei erschossen, nachdem sie und eine Gruppe Aufrührer*innen versuchen, eine verbarrikadierte Tür im Kapitol aufzubrechen, wie es in einem sehr expliziten Video zu sehen ist. Drei weitere Menschen – zwei Männer und eine Frau – sterben an „medizinischen Notfällen“, wie die Polizei später berichtet. Einer dieser Männer tötete Medienberichten zufolge sich selbst, nachdem er sich versehentlich mit seinem Taser anschoss und daraufhin einen Herzinfarkt erlitt. Ein Tag nach dem Angriff auf das Kapitol erlag Brian Sicknick, ein Polizeibeamte der US Capitol Police, seinen Verletzungen. Er wurde von Aufrührer*innen attackiert, als er versuchte, das Kapitol zu schützen.
Bislang wurde insgesamt gegen 55 festgenommene Menschen Tatvorwürfe erhoben – darunter Hausfriedensbruch, Körperverletzung, Diebstahl und Waffendelikte. Ein Mann wurde festgenommen, nachdem bei ihm ein „militärisches halbautomatisches Gewehr“ sowie elf Molotowcocktails gefunden wurden. Die Polizei sprach auch von einer Kühlbox voller Molotowcocktails, die vor dem Kapitol sichergestellt wurde. Bisher bleibt allerdings unklar, ob es sich hier um den gleichen Mann handelt.
In einer Beschwerde, die der US-amerikanischen Onlinezeitung The Daily Beast vorliegt, beschreibt ein Polizist die Durchsuchung eines Aufrührers, der der abendlichen Ausgangssperre nach dem Sturm auf das Kapitol nicht nachgekommen sei. Der Mann war mit einer schusssicheren Weste, einer Pistole, Ladestreifen, einem Messer, einer Gasmaske, einem Verbandskasten und einem Militär-Fertiggericht ausgerüstet. Und somit war er offenbar besser ausgestattet als viele Polizeibeamt*innen vor Ort.
Doch viele schwer bewaffnete und militärisch ausgerüstete Kapitolstürmer konnten nicht verhaftet werden. Die Meldung von 55 Festnahmen klingt lächerlich niedrig, schaut man die Livestreams des Tages an. Die Bilder, die im Internet kursieren, sind alarmierend. Nicht wenige Teilnehmende tragen Camouflage-Uniformen, feste Stiefel und Handschuhe. Sie sind zum Teil auch mit Handschellen und Kabelbindern ausgerüstet. In einem Foto ist ein in Schwarz gekleideter Mann im Senatssaal zu sehen, der Kabelbinder und offenbar auch eine Pistole mit sich trägt. Auf seiner Militär-Weste: Ein Totenkopf-Aufnäher. Ein anderer Mann mit Körperpanzerung und dem Schriftzug „We Kill Commies“ (Wir töten Kommunisten) auf seinem Navy-Seal-Helm trägt ebenfalls ein Bündel Kabelbinder mit sich im Senat.
Wofür man Kabelbinder und Handschellen bräuchte, wird nach einem Blick auf die einschlägigen Imageboards und Online-Communities der MAGA-Szene klar. Auf pro-Trump Foren wie „thedonald.win“ kursierten in den Tagen vor dem Sturm Mordträume und Geiselfantasien. Ein User auf der Social-Media-Plattform „Phoenix Social Network“ schrieb: „This anti American scum needs to be exterminated“. Dieser antiamerikanischer Abschaum müsse ausgelöscht werden.
Das FBI sucht nun nach Zeug*innen. Auf einem Fahndungsbild sind Fotos von zehn polizeilich gesuchten Männern. Sechs von ihnen tragen rote „MAGA“-Basecaps. Und somit wird erneut klar: Trump mag zwar die Wahl verloren haben, die ersten Haftbefehle wurden zwar zugestellt, eine durchradikalisierte Bewegung kann man allerdings nicht so leicht aufhalten. In einem am 7. Januar veröffentlichten Video distanzierte sich Trump nach einer auffälligen Stille endlich von der „Gewalt, Gesetzlosigkeit und Chaos“ des Angriffs auf das Kapitol. Doch seine Basis zeigt sich von seiner Botschaft wenig beeindruckt. Sie vermuten eine Verschwörung: Trump sei vom „deep state“ entführt worden, spreche gegen seinen Willen, oder das Video sei ein „deep fake“. Trumps Fußsoldat*innen treten nicht ab. Sie stehen bereit.