Der Marienplatz in Stuttgart wirkt am Samstagvormittag wie ein Bild aus der Zeit vor Corona: Zur Auftaktkundgebung der „Querdenker“-Bewegung haben sich hier rund 2.500 Menschen versammelt. Im Laufe des Tages werden es mehr als 10.000 Demonstrierende sein. Sie vereint der Hass auf Politik und Medien sowie die Ablehnung der Corona-Schutzmaßnahmen. Obwohl in den Auflagen der Versammlungsbehörde eine Maskenpflicht und ausreichende Abstände vorgeschrieben sind, hält sich keiner der Demonstrierenden daran. Und das hat heute kaum Konsequenzen.
Immer wieder muss durch die Versammlungsleitung der Demonstration auf diese Auflagen aufmerksam gemacht werden. Dies passiere aber nur widerwillig, wie Nils Wehner, der Kopf der Leipziger „Querdenker“, betont. Eine Reaktion auf die Durchsagen gibt es nicht. Fast schon demonstrativ umarmen sich einzelne Demonstrierende immer wieder. Eingeschritten ist – wie so häufig an diesem Tag – niemand. Dass die Polizei bei diesen Verstößen nicht einschreiten würde, hatte sich im Vorfeld bereits angekündigt. So äußerte Carsten Höfler, der Einsatzleiter der Stuttgarter Polizei, in der vergangenen Woche, dass der Gradmesser zum Einschreiten die „Friedlichkeit“ der Demonstration sei.
Unter Führung einer Trommelgruppe um Stephan Bergmann, den ehemaligen Pressesprecher von „Querdenken“, formiert sich am Marienplatz gegen 12 Uhr ein Demonstrationszug, der zur zentralen Kundgebung auf der Cannstatter Wasen ziehen soll. Der Esoteriker und Trommelbauer Bergmann soll nach Recherchen des Zeitungsverlags Waiblingen Gründungsmitglied des extrem rechten Vereins „Primus inter Pares“ sein. Dieser wird dem Reichsbürgerspektrum zugeordnet. Auf seiner Facebookseite teilte der selbsternannte Schamane mehrfach rassistische und rechtsextreme Inhalte. Von Friedlichkeit keine Spur.
Blockade ohne Erfolg
Wie auch auf der vorangegangenen Kundgebung werden während des Demonstrationszuges keinerlei Abstände untereinander oder die Maskenpflicht eingehalten. Erneut greift die Polizei bei den massiven Auflagenverstößen nicht ein. Nach wenigen hundert Metern wird die „Querdenker“-Demonstration dennoch gestoppt. Antifaschist*innen blockieren mit Fahrrädern die Aufzugstrecke. Ein ähnliches Bild bietet sich in einer Parallelstraße. Auch hier gibt es eine Blockade durch Gegendemonstrant*innen – diesmal aber ohne Fahrräder. Rund 350 Personen beteiligen sich an den Blockaden: Das reicht aber bei weitem nicht, die zahlenmäßig überlegener „Querdenker*innen“ zu stoppen.
Stattdessen wird die „Querdenker“-Demonstration von der Polizei umgeleitet und kann dadurch ohne weitere Verzögerungen Richtung Hauptbahnhof ziehen. Auf dem Weg dorthin schließen sich immer mehr „Querdenker“ dem Zug an, wodurch dieser bis auf rund 10.000 Teilnehmende anwächst. Die Spitze der Demonstration haben inzwischen „Querdenker“ aus Nordrhein-Westfalen in Person von Michael Schele aus Hagen, der in Kassel als Anführer einer verbotenen Demonstration aufgefallen war, übernommen.
An der Spitze zeigen sich aber auch Neonazis der „Identitären Bewegung“, die mit einheitlichen, weißen Schlauchschals auftreten, sonst aber schwer als Rechte zu erkennen sind. Hier zeigt sich ein Trend, der bereits in Kassel auffiel: Neonazis und andere Rechte nehmen weiterhin an den „Querdenken“-Demonstrationen teil, zeigen ihre Gesinnung aber nicht mehr so offensichtlich. Reichsfahnen, wie sie im vergangenen Jahr beispielsweise in Berlin noch das Bild dominierten, sind in Stuttgart nicht zu sehen.
Während die „Querdenker“ über die B14 am Schlossgarten vorbeiziehen, kommt es zu Übergriffen auf Journalist*innen. Der Fotojournalist Björn Kietzmann berichtet auf Twitter, dass ein Demonstrant versuchte, ihm die FFP2-Maske aus dem Gesicht zu reißen. Etwa zur selben Zeit bedroht und beleidigt ein „Querdenker“ zwei Journalisten und schlägt in der Folge dem Autor dieses Texts ins Gesicht. Im weiteren Verlauf wird der 37-jährige Täter aufgrund des Angriffs vorläufig festgenommen.
Auf der Bühne nichts Neues
Nach der Demonstration findet eine weitere Kundgebung auf dem Gelände der Cannstatter Wasen: Hier nehmen nach Polizeiangaben mehr als 10.000 Menschen teil. Auf der Bühne findet ein Showlaufen der Szenegrößen statt, während die Rechtsextremen der „Identitären Bewegung“ am Rand des Wasengeländes ein Transparent mit der Aufschrift „Heimatschutz statt Mundschutz“ entrollen.
Neben „Querdenken“-Gründer Michael Ballweg ernten auch Nana Domena, Anwalt Ralf Ludwig und Ex-Fußballweltmeister Thomas Berthold den Applaus der Menge. Inhaltlich bieten sie auf der Bühne wenig Neues. Durch die Corona-Schutzmaßnahmen fühlen sie sich in ihren Grundrechten beschränkt und vergleichen die aktuellen Zustände mit denen autoritärer Staaten, wie der DDR. Auch Anwalt Ludwig bemüht ebenso drastische wie falsche Vergleiche und setzt die Maskenpflicht mit Folter gleich.
Michael Ballweg, der sich selbst gern als Kämpfer für Grundrechte sieht, offenbart später in einem Online-Video sein Verhältnis zum Rechtsstaat: „Die Demonstrationsteilnehmer haben für sich selbst entschieden, welche Auflagen für sie gelten“, erklärt er die Missachtung der vorgeschriebenen Abstände und Maskenpflicht. Durch die Auflagen, so Ballweg, seien die Grund- und Menschenrechte der Versammlungsteilnehmer*innen eingeschränkt gewesen, deswegen habe man sich diesen widersetzt.
Steinwürfe auf Journalist*innen
Einen Teil der „Querdenker*innen“ langweilt das Bühnenprogramm und sie verlassen die Kundgebung vorzeitig. Andere widmen sich wieder der Einschränkung der Pressefreiheit. Ein SWR-Team, dass in einer Liveschalte über die Demonstration berichten soll, wird bepöbelt und sogar mit Steinen beworfen. Die Schalte muss aus Sicherheitsgründen abgebrochen werden. Wenige Meter entfernt bedrängen „Querdenker*innen“ und Ordner der Kundgebung mehrfach Journalist*innen. Die Polizei schreitet erst spät und sehr zögerlich ein. Konsequenzen haben die Übergriffe für die Täter*innen keine.
Journalistenverbände reagieren empört auf die Angriffe auf die Pressefreiheit in Stuttgart: Jörg Reichel, Landesgeschäftsführer der „Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union“ (dju) in ver.di, registrierte bis zum Sonntagmorgen insgesamt 18 Übergriffe auf Journalist*innen. Dabei hatte die Stuttgarter Polizei im Vorfeld der Demonstration „explizite Maßnahmen zum Schutz von Journalistinnen und Journalisten“ angekündigt.
„Wieder einmal kennen die selbsternannten Querdenker keine Hemmungen Berichterstatter anzugreifen“, kommentiert der Vorsitzende des „Deutschen Journalistenverbandes“ (DJV), Frank Überall, die Übergriffe in Stuttgart in einer Pressemitteilung. „Wütend macht mich die offensichtliche Untätigkeit der Polizeibeamten, die nichts für den Schutz unserer Kolleginnen und Kollegen unternehmen“, führt Überall aus. Auch Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) verurteilt die Übergriffe. Diese hätten nichts mit Demonstrationsfreiheit zu tun. „Das sind Angriffe auf die Pressefreiheit. Sie müssen verfolgt und geahndet werden.“
Ein politisches Nachspiel
Doch die Bilanz der Behörden zeigt ein anderes Bild der Ereignisse: Am Samstag hatte die Polizei nach eigener Aussage 254 Corona-Verstöße geahndet – und damit nur einen Bruchteil der tatsächlichen Verstöße. Konsequent war man hingegen gegen Gegendemonstrant*innen vorgegangen. Im Bereich der Blockaden stellte die Polizei „insgesamt 266 Personalien von Blockierern fest und erteilten nach vorangegangener Auflösung anschließend Platzverweise.“
Trotz der konsequenten Nichtbeachtung der Masken- und Abstandspflicht durch die „Querdenker*innen“ zeigen sich Stadt und Polizei mit dem Einsatz am Samstag zufrieden. „Ich bin erleichtert, dass der Tag bislang weitestgehend friedlich verlaufen ist. Die Bilder aus Stuttgart sind nicht schön, aber sie sind kein Vergleich zu den jüngsten Ereignissen in Brüssel, Kassel oder Dresden“, so Bürgermeister Clemens Maier. „Insgesamt verliefen die Versammlungen und Aufzüge friedlich“, bestätigt die Polizei, die Darstellung der Stadt.
Anders sieht es die Landespolitik: Die Demonstration in Stuttgart könnte ein Nachspiel haben. Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha (Die Grünen) kündigte laut SWR an, dass die Geschehnisse mit der Stadt Stuttgart analysiert werden, damit sie sich nicht wiederholen. Auch der Amtschef des Sozialministeriums, Uwe Lahl, übte Kritik: „Ich verstehe nicht, wie die Stadt sich sehenden Auges in die Situation manövriert hat.“ Lahl habe im Vorfeld Oberbürgermeister Maier zu verstehen gegeben, dass die Demonstration unter Heranziehung der Coronaschutzverordnung verboten werden könnte. „Wie sollen wir der Bevölkerung erklären, dass sich an Ostern nur fünf Menschen aus zwei Haushalten treffen dürfen, während tausende Demonstranten ohne Maske und ohne Mindestabstand durch die Stadt ziehen?“, spricht Lahl die Frage aus, die am Samstag viele Menschen in Deutschland beschäftigte.