In über 60 Fällen haben Donald Trump oder seine Anhänger*innen versucht, vor amerikanischen Gerichten die Präsidentschaftswahlen anzufechten. Jeder einzelne Versuch wurde abgeschmettert. Bei einigen aus formalen Gründen, andere, weil es sich um offensichtliche Lügen von unglaubwürdigen Zeugen gehandelt hatte. Viele der zuständigen Richter*innen waren sogar von Trump ernannt worden, aber entschieden trotzdem nicht zu seinen Gunsten. Bei Trumps Unterstützer*innen kam das Märchen vom Wahlbetrug allerdings weit besser an als bei den Gerichten. Das zeigte sich nicht zuletzt beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021.
Die Erzählung von der angeblich gestohlenen Wahl war gut vorbereitet. Schon im April 2020 behauptete Trump zum ersten Mal via Twitter, dass es Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschaftswahlen geben würde. Bis zu den Wahlen wiederholte er die Behauptung mehr als 70 Mal. Vor allem hatte er es auf die Briefwahl abgesehen, die im ersten Jahr der Covid-19-Pandemie in den USA an Bedeutung gewonnen hatte. Seine Anhänger*innen schlossen sich der Geschichte schnell an. Große rechtsalternative Social-Media-Accounts stellten ebenfalls Behauptungen unter dem Hashtag #StopTheSteal in den Raum, was Trump wiederum retweetete. Belege auch nur für einen versuchten Wahlbetrug gab es schon damals: keine. Expert*innen widersprachen Trump immer wieder. Selbst der Direktor des FBI, Christoper Wray, äußerte sich zu den Vorwürfen in einer Anhörung und sagte: „Historisch gab es keine koordinierten Betrugsversuche bei den wichtigen Wahlen, weder per Brief noch in anderer Form.“
Die Lügen von Donald Trump und die permanente Wiederholung der Unwahrheit haben aber offenbar ihren Weg nach Deutschland gefunden. Unterschiedliche Vertreter*innen der AfD und ihr Unterstützermilieu haben bereits angefangen, das Märchen von der „manipulationsanfälligen Briefwahl“ ins Deutsche zu übersetzen. Angefangen hatte der Sachsen-Anhaltische Landtagsabgeordnete Robert Farle. Aber auch bekannte rechtsradikale Politiker wie Stephan Brandner und Björn Höcke sind auf den Zug aufgesprungen. Das zeigen auch die Kommentarspalten unter den entsprechenden Beiträgen. Das Narrativ der Wahlmanipulation wird von den Anhänger*innen der Partei allerdings eher in das beständige Narrativ von der bevorstehenden Wiedereinführung der DDR und des Sozialismus eingebettet. Darin kommt die gängige Erzählung von der Wahlmanipulation immer wieder vor und wird mit der Briefwahl wieder aufgegriffen.
In einem Interview des MDR mit Stefan Möller, das die AfD-Fraktion des Thüringer Landtags am 15. Januar auf YouTube veröffentlicht, spricht Möller von der „manipulationsanfälligen Briefwahl“. Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion im Thüringer Landtag kommentiert die Verschiebung der Landtagswahl in Thüringen in den September, auf den Termin der Bundestagswahl, unter anderem mit den Worten: „Es geht um die Schwächung der AfD und darauf deuten eben auch die absehbaren massiven Einschränkungen im Wahlkampf hin, die man natürlich mit Corona zu begründen versucht, ebenso zum Beispiel die Ausweitung der manipulationsanfälligen Briefwahl.“
Björn Höcke behauptet in seinem Telegramkanal, „eine reine Briefwahl gefährdet die Demokratie“ und sieht eine „Demokratieabwicklung“. Die Wahl würde ins Private abrutschen und sei dadurch Manipulationen ausgesetzt.
Der AfD Landtagsabgeordnete Robert Farle witterte schon im November 2020 Manipulationen bei der Wahl in Sachsen-Anhalt im Juni 2021 im Zusammenhang mit dem Coronavirus. Denn „diese ganze Pandemie ist ein Schwindel.“ Der Landtag hatte festgelegt, dass wenn sich die Pandemielage im September verschärfen sollte, eine reine Briefwahl möglich sein könnte. Diese Neuregelung gäbe es nur, „um den größten Wahlbetrug dieses Landes im nächsten Jahr durchzuführen.“
Tino Chrupalla, Bundessprecher Partei behauptet im Interview mit dem ARD-Magazin Kontraste: „Bei Briefwahlen kann man generell Bedenken haben, weil das natürlich das Einfallstor der Manipulation ist.“ Hans-Thomas Tillschneider, stellvertretender Landesvorsitzender in Sachsen-Anhalt – einer der Landesverbände, der seit neuestem vom Verfassungsschutz beobachtet wird – fragt im gleichen Beitrag suggestiv: „Wer sagt denn nicht, dass mit genügend krimineller Energie, sich Briefwahldokumente fälschen lassen?“ Und auch Stephan Brandner, AfD-Abgeordneter im Bundestag, versucht Zweifel zu streuen: „Hinzu kommt noch, dass die Briefwahlurnen tagelang, wochenlang in Rathäusern rumstehen. Keiner weiß, was damit passiert.“ Auf Facebook teilt er den Beitrag und ergänzt: „Briefwahlen ermöglichen ein hohes Maß an Manipulation. Bereits bei vergangenen Wahlen wichen die Ergebnisse der Briefwahl signifikant von denen der Präsenz ab.“
Die Facebookfans des Politikers sind bereits überzeugt. Sie glauben sowieso weiterhin noch die Lügen von Donald Trump und so ist der Schritt zu den Wahlen in Deutschland für sie nicht weit.
Die rechtsextreme Kampagnen-Agentur „EinProzent“ beteiligt sich bereits seit Ende Oktober an den Desinformationsbemühungen. Das ist nicht neu, schon in der Vergangenheit hatte der Verein dazu aufgerufen, Wahlen zu beobachten, um zu verhindern, dass die AfD durch Betrug benachteiligt werde. Laut Angaben auf der Website des Vereins werden schon seit 2016 Freiwillige eingesetzt, um in Wahllokalen vor Ort nach dem Rechten zu schauen. Der ganze große Coup ist dabei noch nicht gelungen – Meldungen des Vereins während der EU-Wahl im Mai 2019 stellten sich als falsch heraus, wie Correctiv berichtete. In der Welt von „EinProzent“-Philip Stein sieht das allerdings anders aus: „Die Wahlbeobachtung von Ein Prozent hat nicht nur tausende Stimmen, sondern – liebe AfD – auch einige Mandate gerettet.“ So Stein auf der Pegida-Bühne. Von den tausenden Stimmen und mehreren Mandaten ist außerhalb dieser Rede nirgends zu hören. Tatsächlich gibt es einen – offenbar technisch bedingten – Fall in Sachsen-Anhalt bei der Landtagswahl 2016. Etwa 400 Stimmen für die AfD waren versehentlich der Partei ALFA zugeordnet worden. Schließlich bekam die AfD dadurch einen weiteren Sitz im Landtag zugesprochen.
Auch bei einer Kommunalwahl in Stendal kam es 2014 zu Unregelmäßigkeiten. Ein Vorgang, der weder durch AfD noch „EinProzent“ aufgedeckt wurde. Damals hatte ein CDU-Lokalpolitiker über zum Teil gefälschte Vollmachten Briefwahlunterlagen abholen lassen und so etwa 300 Stimmen manipuliert. Der Vorgang wurde aber schnell entdeckt und korrigiert. Der Täter wurde verurteilt. Trotz gegenteiliger Behauptungen von „EinProzent“ hatte der Vorfall bundesweite Konsequenzen. Die Regeln für Vollmachten wurden verschärft. Auch der Bundeswahlleiter Georg Thiel ist sicher, dass Manipulationen in Deutschland praktisch ausgeschlossen sind. Der ARD sagte er: „Das System der Briefwahl gibt es in Deutschland, da gab es noch gar keine AfD. Dieses Argument, was immer gesagt wird, Briefwahlen sind unsicher, es kommt da zu Verletzungen, das können wir hier nicht bestätigen.“
Michael Link, Bundestagsabgeordneter der FDP, der als Chef der OSZE-Wahlbeobachtungskommission die Wahlen in den USA verfolge und ebenfalls keinen Wahlbetrug erkennen konnte, beschreibt die eigentliche Strategie der AfD und ihre Unterstützer*innen: „Wir sehen bei der AfD, dass sie ganz gezielt versucht, das Vertrauen in den ordnungsgemäßen Wahlprozess zu unterlaufen und zu unterminieren“. Diese Strategie ist langfristig, genauso wie sie es schon bei Donald Trump war. Im Laufe des Jahres wird die Partei das Märchen vom angeblichen Wahlbetrug immer weiter wiederholen, um dann am Wahlabend Betrugsvorwürfe in den Raum stellen zu können und so das Vertrauen in die Demokratie zu untergraben.