Es ist ein skurriler Vorgang: Nutzer*innen des Messenger-Netzwerkes Telegram erhielten am gestrigen 30. August 2022 von der Plattform eine ungewöhnliche „Servicemeldung“ – ohne Tamtam gesendet zwischen dem Versprechen auf schnellere Downloads und der Ankündigung animierter Emojis.
Problemnetzwerk Telegram
Dabei ist der Inhalt durchaus brisant: Denn das „Telegram Team“ teilt eine Umfrage, deren Tenor darauf hinausläuft: Sollen wir mit deutschen Behörden wie dem BKA zusammenarbeiten – oder nicht?
Wer nun vielleicht denkt: Ob Gesetze zur Anwendung kommen, wenn Straftaten begangen werden, entscheidet ja wohl nicht so eine Plattform, der hat im Falle von Telegram bisher nur begrenzt recht: Denn die Plattform, 2013 gegründet, um oppositionelle Kommunikation gegen den russischen Staat zu ermöglichen, hat es sich zur Grundlage gemacht, nicht mit staatlichen Stellen zusammenzuarbeiten – und Kommunikation nicht zu beschränken. Dann allerdings hat eine solche Plattform schnell nicht nur nach Demokratie strebende Oppositionelle aus nicht-demokratischen Staaten auf der Plattform, sondern auch demokratiefeindliche Straf- und Gewalttäter oder Terroristen aus demokratischen Staaten (oder schlichte Kriminelle, Sexualstraftäter, Drogenhändler aus aller Welt) (vgl. Belltower.News). Allein, wenn wir auf das rechtsextreme und verschwörungsideologische Milieu aus Deutschland gucken: Organisation von Gewalttaten, Bildung von terroristischen Gruppen, Zirkulieren von Waffenbauanleitungen, Organisation von Hass- und Doxing-Kampagnen, Aufrufe zur Ermordung von Politiker*innen, plus unzählige Mengen an Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Trans- und Homofeindlichkeit – es kommt einiges zusammen.
Der deutsche Staat hat zwar immer wieder versucht, Telegram für strafrechtlich relevante Inhalte auf der Plattform zu belangen – doch die entzieht sich. Bis in den Februar 2022 gab es nicht einmal eine direkte Kontaktmöglichkeit zwischen Behörden und Plattform, es wurde gar über eine Verbannung Telegrams aus dem deutschen Internetraum diskutiert – wenn auch nicht ernsthaft. Die unheilvolle Wirkung der niedrigschwelligen Funktionsfähigkeit der Plattform, gepaart mit dem Unwillen, Inhalte zu moderieren oder zu löschen, ist auch von uns belegt worden. Tatsächlich sind nur vereinzelt Fälle bekannt, in denen Telegram sich entschlossen hatte, Inhalte zu löschen, unter anderem bei islamistischen Terrorgruppen. Sechs Kanäle und Gruppen der deutschen Verschwörungsszene wollen auch von Löschungen betroffen gewesen sein, berichtet im Januar netzpolitik.org.
Will Telegram Justiz oder Selbstjustiz?
Und nun diese Umfrage. Das „Telegram Team“ erklärt darin, bisher würden IP-Adressen und Telefonnummern von Terrorverdächtigen auf Anfrage von staatlichen Behörden zur Verfügung gestellt, wenn es zuvor einen Gerichtsbeschluss gegeben habe. Auch das steht in der Umfrage allerdings zur Disposition: Die Nutzer*innen sollen wählen:
- Weiter Herausgabe der Daten von Terrorverdächtigen, nach Gerichtsbeschluss? Das hieße: Den Status Quo behalten.
- Herausgabe der Daten von Verdächtigen schwerer Straftaten, und auch ohne Gerichtsbeschluss? Das hieße: viel mehr Kooperation mit Strafverfolgungsbehörden.
- Keine Herausgabe von Daten, niemals? Das hieße: Zurücknahme auch der bisher kaum erfolgenden Kooperation.
Interessanterweise haben bis heute, nach rund einem Tag, fast 2 Millionen Accounts abgestimmt – eine stattliche Anzahl. Pro Account kann nur einmal abgestimmt werden, aber natürlich ist es möglich, dass ein Mensch mehrere Accounts betreibt und darüber Ergebnisse manipulieren kann. Dabei gibt es übrigens bisher ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Beibehaltung des Status Quo, also Kooperation im Terrorfall – 40 Prozent wollen das – und der Aufkündigung jeglicher Kooperation (36 Prozent). Die Kooperation auch bei schweren Straftaten wollen 20 Prozent derjenigen, die Stimmen abgegeben haben.
Unklar bleibt, was Telegram mit der Umfrage bezwecken will: Will sich die Plattform zukünftige Entscheidungen bestätigen lassen? Soll hier Verantwortung auf die Nutzer*innen abgewälzt werden, die bei der Plattform liegt: Nämlich, wie sicher sich Menschen auf der Plattform fühlen dürfen? Ist das Basisdemokratie oder die Unterstützung von Selbstjustiz, weil andere Justiz ausgeschlossen wird? So oder so: An der Rolle Telegrams als Verbreitungsort für Hass wird sich so schnell wohl nichts ändern.
Meta, Google und Co. haben bei Klagen gegen das NetzDG Recht bekommen
Eine Schlappe im Kampf gegen Hass im Netz erlitt in diesem Jahr das erst im Februar beschlossene überarbeitete Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). Facebook/Meta und Google hatten dagegen geklagt, in Zukunft Nutzerdaten bei Straftat-Verdacht ans BKA auszuleiten – Twitter und TikTok hatten sich angeschlossen. Mit Beschluss vom 1. März hat das Verwaltungsgericht (VG) Köln den Beschwerden im Eilverfahren größtenteils stattgegeben (Az. 6 L 1277/21) – sie leiten keine Daten aus. Das Gesetz sei europarechtswidrig (vgl. heise.de). Bisher hat die Bundesregierung dagegen keine Maßnahmen ergriffen – schließlich steht auch noch auf Europaebene der „Digital Services Act“ (DSA) ins Haus, der Grundlage einer europaweiten Regulierung werden soll.
Der DSA kommt – nur: Was heißt das?
Der DSA hat nun die erste Stufe im Europaparlament genommen. Im Juli stimmte das Parlament für zwei Gesetze, die europaweit für eine verschärfte Aufsicht und mehr Verbraucherschutz sorgen sollen: Es soll den Umgang mit Hate Speech und illegalen Inhalten auf digitalen Plattformen regeln und einen fairen Wettbewerb gewährleisten, wo Unternehmen wie Meta, Google oder Amazon marktdominant sind. Auch die ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel haben die Gesetze abgesegnet, nun muss nur noch auf Ministerebene zugestimmt werden. Dies gilt als Formsache (vgl. lto.de). Für die Hate-Speech-Bekämpfung in Deutschland dürfte das ein Rückschritt werden: Das DSA nimmt etwa die verpflichtenden inländischen Zustellungsbeauftragten zurück, die zumindest zivilrechtliche Klagen gegen die Netzwerke in Deutschland deutlich leichter ermöglichten, als dies mit Firmensitz Irland der Fall ist.