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Terror gegen Kurd*innen Die offenen Fragen nach dem Hass-Attentat in Paris

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Demonstration zu Erinnerung an die Opfer des Terroraktes gegen Kurd*innen in Paris am 23.12.2022 - und am 09.01.2013. Gezeigt werden hier die Bilder von Leyla Şaylemez, Abdurrahman Kızıl, Sakine Cansız, Emine Kara, Fidan Doğan und Mîr Perwer (v.l.). (Quelle: picture alliance / abaca | Blondet Eliot/ABACA)

Als ein 69-jähriger Mann am 23.12.2022 in Paris drei Menschen erschoss und mindestens drei weitere schwer verletzte, traten Polizei und Staatsanwaltschaft vor die Presse: Es sei ein rechtsextremer Täter gewesen, bereits bekannt wegen rassistisch motivierter Gewalttaten, die Morde seien ein rechtsterroristischer Akt. So viel Klarheit gibt es bei Polizeieinschätzungen nach Gewalttaten in Deutschland selten.

Doch auch in Frankreich ist das Leben kompliziert. Der Täter ist ein gewalttätiger Rassist, was nicht nur seine eigene explizite Aussage nach der Tat, sondern auch durch seine Vorgeschichte belegt ist. Andererseits hat ihn nun ein Polizeipsychologe als psychisch krank diagnostiziert, statt im Gefängnis ist der Attentäter nun in einer psychiatrischen Einrichtung. Immerhin ermittelt die Staatsanwaltschaft allerdings weiterhin auch wegen Rassismus – denn natürlich kann jemand psychisch krank, aber trotzdem rassistisch und rechtsextrem motiviert sein (vgl. Belltower.News).

Zugleich aber erhebt die kurdische Community Fragen, die die Ermordeten betreffen: Haben wir es wirklich mit der Tat eines wahllos um sich schießenden Attentäters zu tun, oder gab es eine Auswahl der Opfer? Und wie war die motiviert?

Hier der aktuelle Stand der Ermittlungen.

Die Tat

Am Freitag hatte ein Mann in einem kurdischen Gemeindezentrum, dem „Centre Culturel De Kurde Paris Ahmet Kaya“, sowie einem Restaurant und einem Friseursalon in der Rue d’Enghien in Paris mehrere Schüsse abgefeuert und drei Menschen getötet. Drei weitere Menschen wurden bei dem Angriff im zehnten Pariser Arrondissement verletzt.

Am Tatort sagte der mutmaßliche Täter einem Polizisten, der ihn verhaftete, er habe es auf kurdischen Einrichtungen abgesehen und er sei ein Rassist (Franceinfo). Beim polizeilichen Verhör gab der 69-jährige pensionierte Zugführer an, er habe ursprünglich geplant, Migrantinnen und Migranten in einem Pariser Vorort zu töten. Deshalb sei er am Morgen zunächst nach Saint-Denis gefahren, um dort „Ausländer“ zu ermorden, gegen die er nach eigenen Angaben einen „pathologischen Hass“ empfinde, teilte die Pariser Staatsanwältin Laure Beccuau mit. In Saint-Denis wären ihm aber nicht genug Menschen unterwegs gewesen. Er fuhr zurück in die Wohnung seiner Eltern, in der er ebenfalls lebte, und entschloss sich dort, zum kurdischen Kulturzentrum Ahmet-Kaya in seinem eigenen Wohnviertel zu fahren. Laut Augenzeugen wurde er dort mit einem Auto abgesetzt und eröffnete das Feuer noch in der Eingangshalle. Dort tötete er zwei Menschen. Im Verhör erzählte der Täter, er habe geplant, dort seine gesamte Munition zu verbrauchen und sich „mit der letzten Patrone selbst umzubringen“. Der Täter hatte einen Colt 45 mm der US-Army von 1911 dabei, dazu einen Koffer mit zwei Magazinen und mindesten 25 Patronen Kaliber 45 (vgl. ZEIT, Franceinfo).

Doch diesen Plan setzte der Täter nicht um. Stattdessen verfolgte er ein Opfer, das er im Kulturzentrum verfehlte, bis in ein kurdisches Restaurant, wo er es erschoss. Dann lief er 150 Meter über die Rue d’Enghien, um schließlich in einen kurdischen Friseursalon einzudringen, wo er drei weitere Menschen verletzte, bevor einer der Angegriffenen ihn überwältigen konnte.

Die Tatwaffe kaufte der 69-Jährige vor vier Jahren von einem mittlerweile verstorbenen Mitglied des Schützenvereins, dem er selbst angehörte.

Der Täter

Der 69-jährige Franzose ist pensionierter Zugführer und hat bereits mehrfach polizeibekannte Gewalttaten aus rassistischen Gründen begangen.

Im Verhör gab er an, 2016 sei bei ihm eingebrochen worden. Seitdem habe er „immer das Verlangen gehabt, Migranten zu ermorden“, so die Staatsanwaltschaft. Er selbst bezeichnet die Tat als „Auslöser“ (ZEIT). Aus diesem Jahr stammt auch sein erster rassistischer Gewaltangriff, der aber immer noch nicht rechtskräftig verurteilt wurde (unten mehr).

Die Pariser Staatsanwaltschaft berichtet von seinen Vorleben: Im Juni 2017 wurde der Täter vom Strafgericht Bobigny (Seine-Saint-Denis) zu sechs Monaten Haft mit einfacher Bewährung und einem fünfjährigen Verbot, eine Waffe zu besitzen oder zu tragen, verurteilt, weil er einen Menschen aus rassistischen Gründen angegriffen hatte (Franceinfo).

Am 8. Dezember 2021 griff er schließlich ein Zeltlager von Geflüchteten in der Nähe des Parc de Bercy im 12. Arrondissement an. Mit einem Säbel versetzte er den Zelten der Geflüchteten mehrere Schläge und verletzte zwei Menschen, woraufhin die Bewohner sich wehrten und ihn überwältigen konnten, wobei sie ihm ebenfalls Verletzungen zufügten. Der Mann wird verhaftet und angeklagt wegen rassistisch motivierter Gewalt mit Waffen und Sachbeschädigung, kommt in Untersuchungshaft. Aus der wird er aber am 12. Dezember freigelassen – die Ermittlungen laufen noch und die Höchstdauer von Untersuchungshaft von einem Jahr war erreicht (Franceinfo).

Zu dem Angriff erklärte Cloé Chastel, Abteilungsleiterin der Tagesbetreuung für Asylsuchende und Flüchtlinge für den Verein Aurore gegenüber Franceinfo: Der Angreifer habe „eine rassistische Ideologie“ geäußert. „Er hatte gedroht, Migranten zu töten, und er hatte dies deutlich zum Ausdruck gebracht, denn als er das Lager erreichte, hatte er laut Zeugenaussagen ‚Tod den Migranten‘ geschrien.“ Nach der Tat wurden allerdings zunächst die Opfer zu Tätern gemacht und vier Bewohner des Lagers verhaftet und verhört, während der Angreifer angesichts seines Gesundheitszustands nicht sofort von den Ermittlern vernommen wurde, weil er mit einem Stock verletzt worden war.

Am 30. Juni 2022 wurde er aber zu 12 Monaten Haft wegen Gewalttaten mit Waffen aus dem Jahr 2016 verurteilt. Damals hatte er eine andere Person aus rassistischen Gründen in deren Wohnung mit einem Messer verletzt. Gegen diese Verurteilung legte er jedoch Berufung ein, wie die Pariser Staatsanwältin mitteilte. Das Verfahren ist daher noch anhängig (Franceinfo).

Inzwischen sagt die Pariser Staatsanwaltschaft dennoch, der Täter sei nicht einschlägig polizeilich registriert gewesen – was zumindest erstaunlich bei den Vorstrafen ist – und er habe „keine Verbindung zu einer extremistischen Ideologie“.  Er sei ein „Einzeltäter“. Deshalb liegen die Ermittlungen jetzt bei der Kriminalpolizei, nicht bei der Anti-Terror-Einheit.

Ein Arzt habe festgestellt, dass der Gesundheitszustand des Mannes keinen Aufenthalt in Polizeigewahrsam zulasse (ZEIT). Er ist deshalb derzeit in der psychiatrischen Krankenstation der Polizeipräfektur untergebracht.

Die Pariser Staatsanwaltschaft ermitteln wegen Mordes, versuchten Mordes, Gewalt mit Waffen und Verstößen gegen das Waffengesetz und rassistischem Motiv der Taten (Franceinfo). Dem Täter droht eine lebenslange Freiheitsstrafe. „Er wollte offensichtlich Ausländer angreifen“, sagte Innenminister Gérald Darmanin (ZEIT). Er sagt aber auch: „Es ist nicht sicher, dass diese Person ein wie auch immer geartetes politisches Engagement hat.“ Er sei den Geheimdiensten auch nicht bekannt gewesen. Er sei Schütze in einem Sportverein gewesen und hatte zahlreiche Waffen angemeldet (Franceinfo).

Die offenen Fragen

Das hieße außerdem, der Täter war weder als französischer Rechtsextremer bekannt – noch als Sympathisant türkischer Nationalisten. Denn das ist eine der Fragen, die die kurdische Community in Paris derzeit stellt.

Die Tat geschah an einem hoch symbolischen Ort, einem Teil von Paris, in den viele türkische Kurd*innen zogen, als sie aus der Türkei flohen, und in dem sich etwa die kurdische Arbeiterbewegung organisierte.

Nach Angaben des kurdischen Dachverbands Demokratischer Kurdischer Rat in Frankreich (CDK-F) sind alle Toten kurdische Aktivist*innen. Der Verband beschuldigte den türkischen Staat und dessen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, für die Tat mitverantwortlich zu sein. Die Türkei bekämpft seit Langem kurdische Unabhängigkeitsbestrebungen. Der CDK-F-Sprecher Agit Polat sagt: „Wir sind empört, weil man uns glauben machen will, dass es sich um einen simplen Rechtsextremen handelt.“ Es könne kein Zufall sein, dass der mutmaßliche Täter ausgerechnet zum Ahmet-Kaya-Zentrum kam, eines seiner Opfer in einem gegenüber gelegenen kurdischen Restaurant niederschoss und dann 150 Meter die Straße entlanglief, die voller internationaler Läden sei, um schließlich in einem kurdischen Friseursalon um sich zu schießen, bevor er überwältigt werden konnte.

Wie die kurdische Nachrichtenagentur ANF berichtet, hätte Im kurdischen Kulturzentrum zum Zeitpunkt des Anschlags eigentlich ein letztes Vorbereitungstreffen der Kurdischen Frauenbewegung in Frankreich (TJK-F) vor den Protesten anlässlich des zehnten Jahrestages der Ermordung von drei Frauen der kurdischen Protestbewegung stattfinden sollen. Weil es störungsbedingte Fahrplanabweichungen im Pariser Bahnverkehr gab, wurde das Vorbereitungstreffen um eine Stunde verschoben – sonst wäre dem Attentäter womöglich ein Massaker viel größeren Ausmaßes gelungen. Am 9. Januar 2013 wurden die drei kurdischen Aktivistinnen in Paris in ihrer Wohnung erschossen: Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez. Der Täter war ein türkischer Mann, der vor Prozessbeginn an Krebs starb – so wurde nie öffentlich, wie intensiv seine Kontakte zum türkischen Geheimdienst waren, die Telefonmitschnitte nahe legen (vgl.ZEIT).

Die kurdische Soziologin Pınar Selek weist im Gespräch mit der ZEIT darauf hin, dass 2023 in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vor der Tür stehen – und dass dies immer wieder Zeiten seien, in denen angebliche Einzeltäter vermehrt Attentate verübten, die aber nie wirklich aufgeklärt würden. Selek wünscht sich deswegen, dass es diesmal anders lauf und bestmögliche und umfassendste polizeiliche Aufklärung betrieben würde.

Die Opfer

Nach Angaben des kurdischen Dachverbands Demokratischer Kurdischer Rat in Frankreich (CDK-F) sind alle Toten kurdische Aktivist*innen (vgl. RND).

  • Abdurrahman Kızıl war ein engagiertes Mitglied der kurdischen Gemeinde und sehr aktiv im Kulturzentrum.
  • Der Komponist Mehmet Şirin Aydın (Mîr Perwer) war ein bekannter Gegner des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er hatte gerade erst die Türkei verlassen und in Frankreich Asyl beantragt, weil er in der Türkei politisch verfolgt wurde.
  • Emine Kara (Evîn Goyî) war die Sprecherin der Bewegung der kurdischen Frauen in Frankreich. Jahrzehntelang hatte sie für die Sache der Kurden gekämpft, in der Türkei und im Irak, in Syrien und im Iran. Sie griff dabei auch selbst zu den Waffen, bis sie an der Front verletzt wurde und nach Frankreich ging. Kara beteiligte sich an der Organisation der Zehn-Jahres-Gedenkfeier zum Mord an drei kurdischen Aktivistinnen am 9. Januar 2013 in Paris.

Laut des europaweite kurdische Dachverbandes KCDK-E warene drei Opfer zivilgesellschaftlich engagiert. „Wir sind erschüttert und fassungslos und von großer Trauer überwältigt. Dass drei kurdische Aktive unter den heimtückischen Kugeln eines Henkers sterben mussten, hat uns tief verletzt“, sagte die Co-Vorsitzende des Verbands, Fatoş Göksungur.

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