Halb neun Uhr abends in Sonneberg: Die thüringische Kleinstadt ist längst zu Bett gegangen. Die Fensterläden sind verschlossen, die Rollos heruntergelassen, hinter einigen Fenstern sieht man die Fernsehbildschirme flackern. Feierabend.
Nur im Orientmarkt, einem kleinen Lebensmittelgeschäft mitten in der Altstadt, brennt noch Licht: Inventur. Abdullah und Mahmoud beugen sich über Obst und Gemüse und sortieren, was morgen noch verkauft werden kann und was in die Tonne muss. Vor sieben Jahren seien sie aus Syrien geflogen, erzählt Abdullah. Als ihnen Sonneberg als Anlaufstelle zugewiesen wurde, hatten sie sich zunächst nichts dabei gedacht. „Alles besser als Krieg.“
Ausgerechnet Sonneberg – also der Landkreis, der erst kürzlich mit Robert Sesselmann den ersten Landrat der AfD ins Amt wählte. Wie lebt es sich hier für jemanden, der erkennbar nicht aus Thüringen stammt? „Es gibt solche und solche Deutsche“, sagt Abdullah und wiegt den Kopf hin und her. Die einen seien ehrlich freundlich, machen ihre Späße beim Einkaufen oder fragen nach, wie es der Familie in Syrien gehe.
Dann gibt es die anderen. „Die sind eigentlich immer unfreundlich, manche beleidigen mich auf der Straße, soweit sie mich sehen.“ Das komme regelmäßig vor – im Schnitt etwa einmal pro Tag, dass ihm mindestens ein unfreundlicher Blick zugeworfen wird. „Wenn ich in Berlin Freunde besuchen fahre, passiert mir das nie“, fügt Abdullahs Bruder Mahmoud hinzu. Am besten sei es, wenn sie ihn einfach ignorieren. Deshalb wünscht er auch keine Fotos – lieber nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen. Außerdem sei der Laden gerade nicht aufgeräumt.
Eine rassistische Beleidigung pro Tag – in einer Region, die sich eigentlich über jede*n Zuwanderer*in freuen müsste. Die Zahlen zur prognostizierten Bevölkerungsentwicklung jedenfalls sind verheerend: Laut statistischem Landesamt Thüringen wird für den Landkreis Sonneberg in den kommenden 20 Jahren ein Bevölkerungsrückgang von rund 30 Prozent erwartet. Im benachbarten Suhl sind es sogar 40 Prozent – Zahlen, die in der deutschen Geschichte bisher beispiellos sind. Ganze Landstriche, ganze Dörfer, in denen bereits jetzt nichts mehr los ist, werden auf absehbare Zeit verschwinden.
Wie kann es also sein, dass Regionen, die von Zuwanderung massiv profitieren würden, um das Sterben der Alten sowie den Wegzug der Jüngeren aufzufangen, Migration am vehementesten ablehnen?
Nur wenige Stunden zuvor, noch bei Tageslicht, hat sich auf dem Sonneberger Marktplatz das versammelt, was von der früheren „Querdenken“-Bewegung übriggeblieben ist. Ein älterer Herr in bayerischer Tracht und mit dazu passendem Dialekt erzählt den etwa fünfzig Versammelten, was sie längst wissen: Für die Herstellung der Corona-Impfstoffe werde unschuldigen Kinder Blut abgezapft, die gesamte Pandemie sei ein „Verrat am deutschen Volk“, und wer sich für die Details interessiere, könne in seiner selbst gebastelten „Galerie des Grauens“ die Schuldigen begutachten.
In langen Reihen hängen hier Bilder von Karl Lauterbach, Christian Drosten und vielen weiteren mit prominenten Namen. Auch Tahera Ameer, Programmvorstand der Amadeu Antonio Stiftung, wird hier aufgeführt. Womit sie den Unmut der Meute auf sich gezogen hat, bleibt Geheimnis des bayerischen Wanderpredigers. Dass nun ein Reporter eben jener Stiftung anwesend ist, macht die Stimmung nicht unbedingt besser. „An den Herrn von der Antonio-Amadeus-Stiftung: Sie sind herzlich eingeladen, mit mir über den Rassismus gegen Deutsche zu sprechen!“, ruft der Wanderprediger durch sein Mikrofon.
Die Theorien, die hier verbreitet werden, sie sind so abstrus, dass man darüber lachen möchte. Doch die hier Anwesenden meinen es todernst. „Ich bin froh über unseren neuen Landrat“, erzählt eine Frau. „Und dass jetzt endlich etwas gegen die ungebremste Zuwanderung getan wird.“ Ein anderer fügt hinzu: „Jetzt wird in Sonneberg aufgeräumt!“
Wie genau der enorme Bevölkerungsrückgang und der sich damit abzeichnende wirtschaftliche Verfall aufgehalten werden sollen, können die Demonstranten auch nicht beantworten. Soviel ist klar: mit Zuwanderung auf jeden Fall nicht.
Eine typisch-thüringische Begegnung, könnte man meinen – doch das greift zu kurz und schmälert zudem das Engagement der vielen Menschen, die teilweise trotz, manchmal auch wegen des rechten Gegenwinds in der Region geblieben sind. Solche Originale wie Peter Lueckmann zum Beispiel.
Ein sonniger Nachmittag in Jena-Paradies, das seinen Namen zu Recht trägt: eine malerische Altstadt mit Fachwerkhäusern, durch die sich die Saale schlängelt – und im Übrigen der einzige Ort in Thüringen, dem kein signifikanter Bevölkerungsrückgang prognostiziert wird. Hier steht Peter Lueckmann, ein kurz gewachsener Mann in Jeansjacke, vor einem grünen Wirtshaus und wird kurz melancholisch: „Ein wichtiger Ort für mich“, erzählt er augenzwinkernd. „Als ich in den 70ern hier meine Ausbildung als Feinoptiker gemacht hab, war das nach Feierabend meine Anlaufstelle.“
Peter wohnt in Gera, wo er mit einigen Gleichgesinnten den Verein „AufAndHalt“ betreibt, der von der Amadeu Antonio Stiftung gefördert wird. Dort setzt er sich für die Rechte von geflüchteten Menschen ein. Für das Gespräch mit der Ermutigen ist er extra rübergefahren. Eigentlich hätte Peter eine klassische Biografie, um ein klischeehaft verbitterter Ostdeutscher zu werden. Sein Werk wurde nach der Wende durch die Treuhand abgewickelt, die Arbeitslosigkeit stieg, die Gewalt nahm zu.
Peter aber genoss die neu gewonnene Freiheit und zog für viele Jahre als Wanderarbeiter durch halb Europa, bis es ihn zurück in die Heimat verschlug. „Ich komme aus einer Familie überzeugter Antifaschisten, das hat mich natürlich geprägt“, erzählt er. Auf seiner Handyhülle klebt gut sichtbar ein „FCKAFD“-Sticker, seine Jacke zieren ein Che-Guevara-Konterfei sowie ein Abzeichen von Borussia Dortmund. „Im Herzen bin und bleibe ich natürlich Carl-Zeiss-Jena-Fan.“
Viele Freunde sind längst aus Gera verschwunden, auch seine Tochter lebt lieber an der Ostsee. An Aufgeben denkt Peter dennoch keine Sekunde. Seine Arbeit als Büromitarbeiter der Linkspartei, sein Engagement in der Geflüchtetenhilfe – das will er nicht aufgeben. „Dann hätten die Nazis ja gewonnen.“ Nicht selten sei er früher mit Polizeischutz unterwegs gewesen. Heute überlege er es sich zweimal, ob er bei rechtsextremen Einschüchterungsversuchen die Polizei verständige. „Immerhin ist der leitende Polizeibeamte in Gera selbst bei der AfD.“ Rechtsextreme Gewalt sei ja nichts Neues in der Gesellschaft. „Das ist wie eine Sinuskurve. Aktuell sind wir mal wieder auf einem neuen Höhepunkt angelangt.“
Nur einige Meter vom Jenaer Wirtshaus entfernt sitzen Axel Salheiser und Cornelius Helmert vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) vor einer dampfenden Tasse Kaffee. Beide sehen aktuell eine Zunahme rechter Tendenzen in der thüringischen Gesellschaft. „In den 90ern hatten wir die sogenannten Baseballschlägerjahre“, erzählt Salheiser. „Nazibanden haben Angst und Schrecken verbreitet, die Staatsgewalt hat lange zugeschaut und die Dinge einfach geschehen lassen.“
Das prominenteste Beispiel: der Nationalsozialistische Untergrund, NSU, der sich hier in Jena gründete. „Das Problem ist ja, dass die Menschen von damals inzwischen in die Mitte der Gesellschaft gerückt sind und sich verbürgerlicht haben. Die haben jetzt Jobs, Häuser und haben Familien gegründet. Das, was damals vielleicht eine Randerscheinung war, ist heute das neue Normal geworden. Wir erleben eine Erosion der demokratischen Strukturen in ganz Thüringen.“
Dazu haben seit der Wiedervereinigung Rechtsextreme aus Westdeutschland gezielt den Osten in den Blick genommen, um ihre Netzwerke aufzubauen. Der neonazistische Liedermacher Frank Rennicke, der thüringische AfD-Chef Björn Höcke oder auch Größen der ehemaligen Ost-Berliner Nazi-Szene hätten sich in den vergangenen Jahren nahezu ungestört hier ansiedeln können.
Doch sollten nicht eigentlich gerade die Sonneberger bei dem bereits geschriebenen Bevölkerungsschwund Menschen wie Abdullah und Mahmoud dafür dankbar sein, dass sie Leben und Arbeit in ihre Stadt bringen? „Ich glaube nicht, dass man das miteinander in Verbindung bringt“, sagt Cornelius Helmert nachdenklich. „Die Menschen gehen vielleicht zu ihrem migrantischen Gemüsehändler, haben aber gleichzeitig eine eher abstrakte Angst vor Migration.“
Auswege aus der Situation? „Die Dinge sichtbar machen, Allianzen schmieden, auch mit Partnern, die man auf den ersten Blick vielleicht nicht auf dem Zettel hatte. Es bräuchte einen Zusammenhalt aller demokratischer Parteien, um dem Rechtsruck noch etwas entgegenzusetzen“, so Salheiser. Schließlich gebe es einen demokratischen Konsens, auf den sich die etablierten Parteien einigen können. „Bei der AfD ist das nicht der Fall. Die kann sich aktuell sehr einfach als Anwalt der kleinen Leute inszenieren. Ihre Stärke ist die Schwäche der etablierten Parteien.“
Ein Blick in die aktuellen Umfragen in Thüringen macht jedenfalls keine gute Laune. Für die anstehende Landtagswahl 2024 sehen alle Institute die AfD mit über 30 Prozent auf Platz eins, CDU und Linke erreichen jeweils 20. Die einst so stolze SPD muss Glück haben, wenn sie es noch auf ein zweistelliges Ergebnis schafft. Grüne und FDP nagen an der Fünf-Prozent-Hürde. Schon jetzt steht die von Bodo Ramelow geführte Minderheitsregierung unter starkem Druck von CDU, FDP und AfD, die kürzlich sogar eine Steuersenkung gegen den Willen der Regierung durchsetzten. Im schlimmsten Fall stünde Thüringen vor einer Haushaltssperre, sollte die Opposition ihr Kräftemessen mit der Landesregierung weiterführen. Dann würden sogar vorgezogene Neuwahlen drohen.
Klar ist auch: Eine Regierungsbeteiligung der AfD würde Thüringen enormen Schaden zufügen – wirtschaftlich wie gesellschaftlich. Oder wie es der Autor Ferdinand von Schirach in einem Interview mit dem heute journal sagte: „Wenn die AfD in Regierungsbeteiligung kommen sollte, dann ist das Land verloren.“