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Thüringen So sieht die rechtsextreme Landnahme aus

Björn Höcke lässt sich feiern. (Quelle: picture alliance/dpa | Martin Schutt)

Die Landtagswahl 2024 in Thüringen hat eine lange und bewegte Vorgeschichte. Trotz vielfältiger Herausforderungen konnte die rot-rot-grüne Minderheitsregierung über die gesamte Legislaturperiode hinweg regieren. Auch wenn dies zum Teil sehr schwierig war, wie die Haushaltsverhandlungen der letzten Jahre exemplarisch zeigen, konnten noch während des aufkommenden Wahlkampfs Kompromisse im Parlament gefunden werden.

Derweil veränderte sich der politische Diskurs in Thüringen mit dem Erstarken der AfD: Themen wie Migrationspolitik, Klimawandelbekämpfung, Energiepolitik und geschlechtersensible Sprache wurden zunehmend konfrontativ geführt, wobei die AfD auf Mittel eines rechten Kulturkampfes zurückgriff und damit nachhaltig zu gesellschaftlicher Polarisierung beitrug. Flankiert wurde dies durch überregionale bis globale Krisen, die Unsicherheitsgefühle in der Bevölkerung verstärkten: die Coronapandemie, der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine, die seit Herbst 2022 wachsende Unzufriedenheit mit der Bundesregierung. In einem Wahlkampf, der sich auf überregionale und bundespolitische Themen fokussierte, gewann die AfD im Juni 2023 mit Robert Sesselmann zum ersten und bislang einzigen Mal eine Landratswahl. Hohe Ergebnisse konnten auch – trotz Niederlagen in den Stichwahlen – Jörg Prophet bei der Oberbürgermeisterwahl in Nordhausen (September 2023) und Uwe Thrum bei der Landratswahl im Saale-Orla-Kreis (Januar 2024) erreichen.

Der Start in das Thüringer „Superwahljahr“ 2024 wurde durch zwei bundespolitische Ereignisse geprägt: Im Januar deckte das journalistische Kollektiv Correctiv das „Potsdamer Treffen“ auf, bei dem Vertreter*innen der AfD und weitere extrem rechte Akteur*innen die Vertreibung von aus ihrer Sicht unerwünschten Menschen aus Deutschland planten. Die Enthüllung löste eine bundesweite Empörungswelle aus und brachte hunderttausende Menschen zu Demonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus zusammen. Diese Demonstrationsbewegung war jedoch temporär und konnte vor der Landtagswahl trotz vielfältiger zivilgesellschaftlicher Proteste, Veranstaltungen und Aktivitäten in der Form nicht reaktiviert werden. Ebenfalls im Januar gründete die ehemalige Vorsitzende der Linkspartei, Sahra Wagenknecht, mit ihrem Bündnis eine Partei, die schnell sehr hohe Umfragewerte in Thüringen erreichen und diese bei der Europawahl im Juni 2024 bestätigen konnte. Damit zeichneten sich bereits grundlegende Veränderungen in der Zusammensetzung des Landtags im September 2024 ab.

Der Wahlkampf

Der Wahlkampf in Thüringen stand v.a. aufgrund der hohen Umfragewerte für die AfD im Fokus der bundesweiten Aufmerksamkeit. Die AfD führte den Wahlkampf äußerst aggressiv und machte in ihren Äußerungen ihren eigenen Machtanspruch und ihre Ablehnung demokratischer Strukturen und Normen deutlich – gleichzeitig fiel ihre politische Kommunikation auch durch die Aktivierung positiver Affekte auf, die der Politikwissenschaftler Johannes Hillje als „Feelgood-Rechtsextremismus“ bezeichnete. Thematisch schaffte es die AfD, ihre Themen ins Zentrum der öffentlichen Debatten zu rücken und drängte die anderen Parteien ins Reaktive. Sie konnten kaum eigene Impulse setzen. Stattdessen wurde der Wahlkampf stark mit Identitätsfragen aufgeladen: Wer ist echter Thüringer, wer vertritt ostdeutsche Interessen besser? Die Debatten dominierten zudem Sicherheits- und Verteidigungspolitik, insb. in Bezug auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, und die Migrations- bzw. Asylpolitik, wobei bei letzterer fast durch das gesamte Parteienspektrum hinweg die Forderung nach einer stärkeren Begrenzung von Geflüchteten und mehr Abschiebungen überwog. Anstatt eigene Themen zu setzen, ließen sich die demokratischen Parteien folglich auf den von Rassismus geprägten Migrationsdiskurs ein und versuchten teilweise, mit restriktiven Migrationspolitiken Stimmen von der AfD abzuwerben. Dieser restriktive Diskurs um Flucht und Migration verschärfte sich nach dem islamistischen Anschlag am 23. September 2024 in Solingen mit drei Toten und kulminierte in einer bundesweiten Abschiebeoffensive wenige Tage vor der Landtagswahl. Der Wahlkampf wurde also vorrangig um Themen ausgefochten, die größtenteils nicht in Thüringen geregelt werden, wie auch parteiübergreifend Bürgermeister*innen und Landrät*innen kritisierten.

Insbesondere mit Blick auf die hohen Umfragewerte der AfD bei jungen Menschen wurde die Rolle der sozialen Medien im Wahlkampf thematisiert. Auffällig ist, dass der digitale Wahlkampf der Partei vor allem auf Spitzenkandidat Höcke als politischen Influencer zugeschnitten war. Höckes Social-Media-Accounts waren so auch die einzigen, die überdurchschnittliche Reichweiten erreichen konnten. Andere Kandidat*innen waren auf diversen Plattformen durchaus präsent, konnten allerdings kaum Reichweite erlangen. Vielmehr setzte die AfD auf ihr politisches Umfeld, bestehend aus Alternativmedien, Streamer*innen und Junger Alternative, das über TikTok und YouTube insbesondere junge Zielgruppen erreichen sollten. Das gelang ihnen, bis auf Höckes Accounts, kaum. Das heißt nicht, dass über die Plattformen keine AfD-Inhalte geteilt wurden. Es spricht aber dafür, dass Social Media nicht als so zentral gesehen wird, um die Menschen in Thüringen zu erreichen. Am ehesten passierte dies noch über die Plattform Facebook, mit der die junge Generation allerdings weniger erreicht wird.

Die demokratische Zivilgesellschaft begann bereits im Herbst 2023 landes- und bundesweit mit der Organisation und Vernetzung für die Thüringer Landtagswahl 2024. Ihr primäres Ziel war es, die AfD-Stimmenanteile möglichst gering und die Partei unter 1/3 der Parlamentssitze, also unter der Sperrminorität zu halten. Daneben wurde für ein AfD-Verbot geworben und Versuche unternommen, über die rechtsextremen, antidemokratischen und menschenfeindlichen Positionierungen von AfD-Vertreter*innen und -Sympathisant*innen aufzuklären. Dafür gründeten sich in Thüringen diverse Netzwerke und Bündnisse. Dabei gelang es, auch jenseits der Städte Erfurt, Weimar und Jena noch stärker Menschen in anderen Städten und im ländlichen Raum für demokratisches Engagement zu aktivieren. Auch die bundesweite Zivilgesellschaft stimmte in die Wahlkampfphase mit ein – z.B. mit der Unterstützung lokaler Initiativen und Aufrufen zu strategischem/taktischem Wählen. Nicht immer waren diese bundesweiten Aktivitäten mit lokalen Initiativen abgestimmt und erfuhren entsprechend Kritik.

Die Zivilgesellschaft konnte trotz einer gesteigerten Bedrohungslage durch Rechtsextreme aktiviert werden. Verschiedene Studien zeigen bereits seit Jahren, dass Rechtsextreme bewusst und strategisch verschiedene Mittel einsetzen, um ihre Gegner*innen einzuschüchtern und zu bedrohen.  Diese Bedrohungslage hat sich im vergangenen Jahr verschärft, wie Angriffe auf Kommunalpolitiker*innen und Wahlkampfhelfer*innen, Morddrohungen gegen demokratisch Engagierte und die Entwicklung rechtsmotivierter Gewalt zeigen. Kurz vor den Wahlen fanden in Sachsen rechtsextreme Gegenmobilisierungen zu den CSDs in Bautzen und Leipzig statt. In Thüringen beispielsweise bekommt der Gegenwind-Fond der Amadeu Antonio Stiftung, der auch Sicherheitsmaßnahmen beim CSD in Bautzen finanzierte, entsprechend immer mehr Finanzierungsanträge für Sicherheitsausgaben.

Zum Wahlkampfabschluss schließlich begleiteten gewalttätige Neonazis eine demokratische Demonstration in Erfurt und bekannte Neonazis wie Tommy Frenck vom Bündnis Zukunft Hildburghausen (BZH) riefen zur Wahl der AfD auf. Hier zeigen sich die jahrzehntelang gewachsenen Allianzen verschiedener rechtsextremer Akteur*innen und die Wechselwirkungen zwischen parlamentarischem Rechtsextremismus und seinem faschistoiden „Vorfeld“.

Wahlmotive und Wähler*innenprofile: Ergebnisse der Nachwahlbefragungen

Die Nachwahlbefragungen für Thüringen geben genauere Einblicke darüber, wer wie gewählt hat und welche Themen bei der Wahl eine besondere Rolle gespielt haben. Daraus lassen sich insbesondere in Hinblick auf die weitere Stärkung der AfD folgende Erkenntnisse ableiten:

  • Die Einordnung der AfD als rechtsextrem schreckt Wähler*innen nicht davon ab, der Partei ihre Stimme zu geben. Vielmehr sagen 87 Prozent der AfD-Wähler*innen, es sei ihnen „egal, dass sie in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht“. Ebenso werden der AfD in zentralen Themengebieten Problemlösungskompetenzen zugeschrieben.
  • Die AfD konnte mehr als jede andere Partei Nichtwähler*innen für sich mobilisieren (71.000). Dies deutet darauf hin, dass die Partei viele Menschen anspricht, die bislang eher eine Distanz zu demokratischen Strukturen und Institutionen aufweisen und sich durch die demokratischen Parteien nicht repräsentiert sehen. Darüber hinaus mobilisierte sie vor allem Stimmen von vormaligen CDU-Wähler*innen (28.000) und der LINKEN (23.000).
  • Abwanderungen von der AfD fanden ausschließlich an das BSW statt (11.000) und 26 Prozent der BSW-Wähler*innen gaben an, sie hätten AfD gewählt, wenn das BSW nicht angetreten wäre. Allerdings mobilisierte die Partei von Sahra Wagenknecht deutlich mehr Wähler*innen von der LINKEN (84.000), der CDU (18.000) und ebenfalls viele Nichtwähler*innen (27.000). Auffällig ist zudem, dass in den Wahlkreisen, in denen die AfD stark ist, auch das BSW besonders hohe Stimmenanteile erzielen konnte; wo die AfD schwächer ist, fallen auch die BSW-Ergebnisse vergleichsweise niedriger aus. Wie die Wahlergebnisse ausgesehen hätten, wenn das BSW nicht angetreten wäre, lässt sich nicht seriös feststellen, da hier eine Vielzahl an Faktoren eine Rolle spielt. Klar ist jedoch, dass das BSW, anders als im Vorfeld der Wahl teilweise spekuliert wurde, nicht in großer Menge Wähler*innen von der AfD „abwerben“ und die rechtsextreme Partei insgesamt nicht schwächen konnte.
  • Bei den soziodemografischen Daten der Wähler*innen zeigen sich in Bezug auf die AfD keine bedeutenden Unterschiede mit Blick auf vergangene Wahlen, Umfragen und Studien: Mehr Männer als Frauen wählen die AfD, außerdem vergleichsweise mehr Arbeiter*innen, Personen mit niedrigem Bildungsgrad und mit vergleichsweise schlechterer finanzieller Lage.
  • Besonders auffällig ist der hohe Stimmenanteil der AfD unter jungen Wähler*innen. So erreichte die Partei unter den 18-24-Jährigen 38 Prozent, das sind 15 Prozentpunkte mehr als bei den Wahlen 2019 und damit der höchste Anstieg in allen Altersgruppen. Auch dieser Befund sollte jedoch nicht überraschen. Studien zeigten bereits im Vorfeld der Wahl den hohen Zuspruch zur AfD unter jungen Menschen. Über Social Media-Plattformen wie TikTok versucht gerade die AfD, junge Menschen gezielt anzusprechen – die Plattform bietet dafür besonders gute Bedingungen. Diese Ansprache fällt gleichzeitig auf ein Fundament an Unsicherheiten infolge globaler Krisen und von Zukunftsängsten, die gerade die jüngeren Generationen betreffen. Die Fragen, wie rechten Einstellungen unter Jugendlichen begegnet werden können und demokratische Teilhabe von jungen Menschen hergestellt werden kann, werden somit zentral für die zukünftige Präventions- und Bildungsarbeit gegen Rechtsextremismus – ebenso wie für die Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft generell sein.
  • Die bestimmenden Themen für alle Wähler*innen bei der Landtagswahl waren Kriminalitätsbekämpfung/innere Sicherheit, Asyl- und Flüchtlingspolitik/Zuwanderung sowie ostdeutsche Interessen/„Probleme hier vor Ort“. Damit bestätigen die Nachwahlbefragungen die oben geschilderten Beobachtungen aus dem Wahlkampf, dass die Themensetzungen v.a. der AfD den öffentlichen Diskurs und die Wahlentscheidungen der meisten Wähler*innen bestimmten und die demokratischen Parteien es nicht geschafft haben, eigene Themen in den Vordergrund zu rücken. Ob der Anschlag in Solingen und die daraus folgenden politischen Debatten einen Einfluss auf den Wahlausgang hatten, lässt sich nicht gesichert beantworten, da hierzu keine konkrete Frage in der Nachwahlbefragung vorliegt. Die hohe Bedeutung der Themen Innere Sicherheit und Asyl- und Flüchtlingspolitik gibt jedoch einen Hinweis darauf, dass die politische Debatte um den Anschlag viele Menschen in ihrer Wahlentscheidung beeinflusst bis bestärkt haben könnte.

Ursachen für den Wahlausgang

Mit Blick auf rechtsextreme Einstellungen und die Dynamiken rechtsextremer Mobilisierung sehen wir, dass rechtsextreme Wahlerfolge Ausdruck langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen und des Wandels der politischen Kultur sind. Die Ursachen dafür sind vielfältig, monokausale Erklärungen greifen zu kurz:

  1. Europäische Entwicklung: Mit Blick ins europäische Ausland sehen wir, dass der seit Jahren anhaltende Trend einer „Verschiebung nach rechts“ in Thüringen und Deutschland kein Alleinstellungsmerkmal, sondern ein europäisches Phänomen ist. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man beachtet, dass sich die vielfältigen Krisen, die im thüringischen Wahlkampf wichtig waren, im Globalen abspielen. In Zeiten komplexer Krisenentwicklungen verfangen die einfachen, populistischen Antworten der „falschen Propheten“ (Leo Löwenthal) besonders gut.
  2. Bundesweite Entwicklung: Die Zufriedenheit mit der Ampelregierung ist historisch niedrig, die Kritik an ihrer Politik groß. Das drückt sich auch in den Thüringer Ergebnissen aus: Die Ampelparteien kommen zusammen auf 10,4 Prozent, nur die SPD hat den Wiedereinzug in den Landtag geschafft. Besonders hervorzuheben ist die Entstehung eines „Feindbilds Grün“, das von rechtsextremen Akteur*innen, aber auch der CDU in den letzten Monaten immer stärker in den Diskurs eingebracht wurde. Dies hat zu einer enormen Stigmatisierung der Partei und der mit ihr assoziierten Inhalte, etwa der Unterstützung der Rechte queerer Personen sowie des Engagements für Klimaschutzmaßnahmen, beigetragen.
  3. Ostdeutsche Entwicklung: Auch wenn die gesellschaftliche „Entwicklung nach rechts“ keine Thüringer oder gesamtdeutsche Besonderheit ist, so lässt sich doch eine spezifische Dynamik der extremen Rechten auf der Einstellungsebene, der Ebene der Bewegungsaktivitäten und auch auf parlamentarischer Ebene in den ostdeutschen Bundesländern feststellen. Dafür gibt es historische und politische Ursachen, u.a. den Transformationsprozess nach 1989/90. Im Thüringer Wahlkampf spielte die Frage, wie diese Transformationen sozial gerecht für alle Bewohner*innen bewältigt werden können, jedoch nur eine geringe Rolle. Stattdessen rückte eine „ostdeutsche Identitätspolitik“ vielfach in den Fokus der öffentlichen Debatte.
  4. Thüringer Landespolitik: Bereits 2019 war die Koalitionsfindung in Thüringen äußert kompliziert. Die mittels des „Stabilitätspakts“ mit der CDU-Opposition ermöglichte rot-rot-grüne Minderheitsregierung war eine Notlösung, die 5 Jahre aufrechterhalten wurde. Die Mehrheitsverhältnisse in Thüringen lassen bereits seit 2019 die „klassischen“ Koalitionsoptionen nicht mehr zu. Nun werden neue Optionen notwendig.
  5. Kommunale Problemlagen und lokale politische Kultur: Die Wahlerfolge der AfD sind in Thüringen flächendeckend, doch es lassen sich wie bei den Kommunal- und EU-Wahlen deutliche räumliche Unterschiede feststellen. Diese Unterschiede stellen kein klares Stadt-Land-Gefälle dar. Stattdessen existiert ein deutliches Gefälle zwischen einem Großteil der drei kreisfreien Städte Jena (16,2 Prozent), Weimar (20 Prozent) und Erfurt (23 Prozent) sowie den meisten Landkreisen und den zwei weiteren kreisfreien Städten (Gera: 35,6 Prozent; Suhl: 32,8 Prozent). Eine dichte Besiedelung bedingt somit nicht zwingend einen niedrigeren Stimmenanteil für die AfD. Vielmehr beeinflussen die lokale politische Kultur (z.B. die jahrzehntelange Verankerung bestimmter Parteien) und die lokale Entwicklung (wirtschaftlich, infrastrukturell, demografisch). Auffällig ist, dass gerade in den Landkreisen, in denen über das letzte Jahr hinweg besondere Mobilisierungen gegen AfD-Kandidat*innen bei Landrats- und Bürgermeisterwahlen stattgefunden hatten, die AfD nicht geschwächt wurde, sondern überdurchschnittlich hohe Gewinne erzielen konnte (z.B. Saale-Orla-Kreis, Landkreis Sonneberg). An diesen Regionen lassen sich starke regionale Kontinuitäten der rechtsextremen Wahlerfolge ablesen.

Auswirkungen auf Zivilgesellschaft und marginalisierte Gruppen

Die Bedingungen für die demokratische Zivilgesellschaft sowie gesellschaftlich marginalisierte Bevölkerungsgruppen in Thüringen werden sich infolge der Landtagswahlen nicht verbessern. Die aufgeheizte bis gewaltförmige Stimmung und die vielschichtige Bedrohungslage, der diese Gruppen bereits jetzt ausgesetzt sind, werden durch eine gestärkte rechtsextreme AfD weiter befeuert. Personen mit menschenfeindlichen und antidemokratischen Einstellungen können sich nun in diesen bestärkt sehen und legitimiert, ihre Haltungen in Taten umzusetzen. Bereits im Vorfeld der Landtagswahlen hatte ein demokratisches Bündnis in Sonneberg aufgrund der von ihnen erfahrenen Anfeindungen seinen Rückzug ankündigen müssen. Wenn noch existierende Bündnisse keine stärkere Unterstützung erfahren, drohen weitere Rückzüge in den nächsten Wochen und Monaten.

Dass die AfD seit Mai auch in den Kommunen und Landkreisen gestärkt ist, verschärft das Problem. So wird es vor allem schwieriger werden, demokratisch entwickelte landespolitische Maßnahmen in Kommunen mit starken AfD-Fraktionen in den Kreis- und Gemeinderäten umzusetzen – insbesondere, wenn andere Parteien und Wähler*innenvereinigungen sich nicht klar von der AfD und anderen rechtsextremen Parteien und Bündnissen abgrenzen. An dieser Stelle gilt es erneut zu betonen, dass eine Zusammenarbeit mit der AfD auch in sogenannten „Sachthemen“ deren rechtsextreme Positionen weiter legitimiert und normalisiert.

Für die demokratische Zivilgesellschaft besteht zudem die Gefahr, dass sich die strukturelle wie finanzielle Förderlage durch die veränderten Mehrheitsverhältnisse erheblich verschlechtert. In den vergangenen Jahren hatte die CDU bereits Kürzungen beim Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit „DenkBunt“ vorgeschlagen, über das u.a. die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus MOBIT sowie die Betroffenenberatungsstelle ezra sowie viele weitere Projekte der Demokratieförderung, des zivilgesellschaftlichen Engagements und der Unterstützung von bspw. Geflüchteten gefördert werden. Die Abschaffung der Demokratiearbeit ist eines der zentralen Themen der AfD.

Beachtet werden muss, dass die Auswirkungen der Wahlergebnisse nicht alle Menschen in Thüringen gleich betreffen werden. Es steht konkret zu befürchten, dass sich künftig die Lage vor allem der Menschen, die nicht in das Weltbild der AfD passen, verschlechtern wird: queere Menschen, Menschen mit Migrations- oder Fluchtgeschichte, Menschen mit Behinderung, die politische Linke und viele mehr. Neben der oben genannten Kürzung von Unterstützungsstrukturen kann sich dies vor allem im alltäglichen gesellschaftlichen Miteinander, in der Akzeptanz oder Duldung menschenfeindlicher Äußerungen sowie in Bedrohungen und Anfeindungen im öffentlichen Raum äußern.

Nicht zu unterschätzen ist die Demotivation, die ein solches Wahlergebnis nach einem intensiven Engagement mit sich bringen kann.

Folgerungen und Konsequenzen

Das Ergebnis der Landtagswahlen ist so gravierend, dass es kein „Weiter so“ geben kann. Die demokratischen Akteur*innen müssen sich einer kritischen Reflexion widmen und sich strategisch neu aufstellen. Das heißt, folgende Fragen zu diskutieren und beantworten:

  • Zielsetzung: Was sind unsere Ziele? Wie realistisch sind sie? Wie können wir diese Ziele erreichen?
  • Lernprozesse: Welche Aktivitäten und Maßnahmen sollten wir beibehalten? Mit welchen sollten wir aufhören? Und welche sollten neu hinzukommen?
  • (Selbst-)Reflexion: Wo muss stärker hingeschaut/zugehört/unterstützt werden?

Dabei sollte die bisherige Zielstellung, deren Fokus auf den Wahlen lag, realistisch angepasst und in ein langfristiges Engagement umgewandelt werden. Die demokratische Zivilgesellschaft kann bspw.:

  • dem Narrativ rechtsextremer Hegemonie vor Ort entgegentreten
  • (potenzielle) Betroffene rechtsextremer Anfeindungen, Gewalt und Diskriminierung wirksam schützen und unterstützen
  • eigene Inhalte und Themen solidarischer, menschenrechtsorientierter Praxis weiter- bzw. neu entwickeln und setzen
  • sich gegenseitig ermutigen und das Alleinsein-Gefühl durch praktische Solidarität aufbrechen
  • deutlich machen, dass demokratische Mitbestimmung und politische Beteiligung nicht nur an der Wahlurne, sondern stärker im Alltag stattfinden kann und muss

Die demokratische Zivilgesellschaft außerhalb Thüringens muss die Aufmerksamkeit und das Engagement der letzten Wochen und Monate aufrechterhalten. Dabei sind „Alleingänge“ und Kampagnen von außen nicht hilfreich, sondern es sollte eng mit den Akteur*innen vor Ort zusammengearbeitet werden. U. a. die Bündnisse und Strukturen, die sich in den letzten Jahren etabliert haben, sind dafür die richtige Ausgangslage – z.B. das Bündnis „Dorfliebe für alle“ im Saale-Orla-Kreis, #Nordhausenzusammen im Landkreis Nordhausen, die Initiative AIS-SHK im Saale-Holzland-Kreis.

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