Auffällig ist der derzeitige Zuwachs an Liederabenden. Insgesamt elf sind von MOBIT im Jahr 2013 gezählt worden. Dabei rückt die „Kammwegklause“ auf dem Erfurter Herrenberg besonders in den Blickpunkt. Anfang des Jahres erst öffentlich geworden, fanden dort mit fünf Konzerten die landesweit meisten Liederabende statt. Die besondere Attraktivität von Konzerten mit Liedermacher_innen liegt dabei in ihrer Einfachheit. Benötigen Bands zumeist eine Bühne mit Platz für alle vier bis fünf Bandmitglieder, deren Instrumente und die otwendige Tontechnik, ist der Aufwand für Liederabende mit Gitarre und Notenständer vergleichsweise gering. Daraus ergibt sich eine große Flexibilität. Ob im Vereinsheim, Gaststättenhinterzimmer, im Nachgang einer Wanderung oder zur Abrundung eines Kameradschaftsabends – die örtlichen Voraussetzungen sind nebensächlich. Nicht zuletzt ist das geschäftliche Risiko eines Liederabends überschaubarer, als wenn Saal- und Technikmiete sowie Bandgage anfallen.
Neben den Veranstaltungen in der „Kammwegklause“ bildete die Immobilie der „Hausgemeinschaft Jonastal“ in Crawinkel mit fünf RechtsRock-Konzerten einen zweiten Schwerpunkt. Hier setzten die Neonazis um die RechtsRock-Band SKD („Sonderkommando Dirlewanger“) ihre Konzerte mit bundesweit bekannten Bands der Szene bis zum Sept ember fort. Dieser Personenkreis rund um die Band bewohnt mittlerweile die Immobilien in Ballstädt. Der Frontmann der Band wurde nach dem brutalen Überfall vor drei Wochen als Tatverdächtiger festgenommen.
„Durchschnittlich jedes zweite Wochenende bietet die extrem rechte Szene Konzerte in Thüringen an“ resümiert Mikis Rieb, Berater bei MOBIT. Dabei reiche die Spanne vom lokalen bis zum überregionalen Rahmen. Nicht zu vergessen sind jedoch auch für das Jahr 2013 die drei etablierten Großveranstaltungen im öffentlichen Raum. Der „Eichsfeldtag“ in Leinefelde, der „Thüringentag der nationalen Jugend“ in Sömmerda und das „Rock für Deutschland“ in Gera sind auch im Jahr 2014 bereits terminiert und beworben.
Zusammenfassung:
25 belegbare Konzerte und Liederabende (Vorjahr: 23) wurden insgesamt von MOBIT gezählt.4 Konzerte wurden nach Beginn aufgelöst (Vorjahr: 3).kein Konzert wurde im Vorfeld verhindert (Vorjahr: 4).
Von den insgesamt 25 gezählten Musikveranstaltungen bzw. Veranstaltungen mitrelevantem musikalischen Anteil waren:
22 Konzerte in geschlossenen Räumen z.B. Szene-Treffs,angemieteten Gaststätten etc.; davon 11 Liederabende (Vorjahr 7)3 „Open Air “- Veranstaltungen im öffentlichen Raum (angemeldet alspolitische Versammlung).
Dabei traten u.a. „Bombecks“, „Words of Anger“, „Sleipnir“, „Strafmass“, „Kategorie C“, „Schusterjungs“, „Ruhestörunk“, „Schankschluss“, Liedermacher „Axel“, „SKD“, „Unbeliebte Jungs“, „Hermunduren“, „Priorität 18“, „Exzess“, „Agartha“, „Die Lunikoff Verschwörung“, „Stimme der Vergeltung“, „Frontfeuer“, „Oiram“, Liedermacher „Resistencia“, „Brainwash“, Marco Bartch (früher Laszcz, Sänger von „Sleipnir“), „Fear rains down“, „Legion of Thor“, Rocker Rolf / Lokis Horden, Frank Rennicke, „Kinderzimmerterroristen (KTZ)“, „Brauni & Klampfe“ auf.
Eine genaue Auflistung mit Anlässen, Daten und Details gibt es bald auf www.mobit.org
Darüber hinaus gab es aber auch im Jahr 2013 weitere Konzerte, bei denen einzelne Musiker oder Teile des Publikums Nähen zu extrem rechter Ideologie hatten. (sog. Grauzone).
Hintergrund:
Warum sind Musikveranstaltungen für die rechtsextreme Szene so wichtig?
Schon der „Urahne“ des sogenannten RechtsRocks, Ian Stuart Donaldson, erklärte Anfang der 1990er Jahre das Musik das ideale Mittel sei, Jugendlichen den Nationalsozialismus näher zu bringen. Somit ist die Funktion neonazistischer Musik schon seit mehr als 20 Jahrendefiniert. Um die im Fokus der extrem rechten Szene stehenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen auch möglichst sicher zu erreichen, deckt die braune Musikszene nunmehr ein sehr breites Spektrum an Musikstilen ab. Musikalisch bzw. stilistisch ist der sogenannte RechtsRock keinesfalls auf pure Rockmusik festgelegt, sondern bietet Musik von Liedermacherei (inkl. Volksliedern) bis hin zu sehr schwerem, harten National Socialist Black Metal (NSBM) oder den aggressiven, treibenden Klängen des National Socialist Hardcore (NSHC). Die Öffnung der Szene für die Musikstile junger Menschen bzw. die Möglichkeit für junge, rechtsorientierte Menschen ihre Musik auch innerhalb der organisierten Szene weiter hören zu können, trägt zur Stabilisierung der extrem rechten Szene bei und verfestigt ebenso die Einstellungsmuster der Szenegänger. Auch die NPD nutzt Musik in Form von sog. SchulhofCDs zur Gewinnung von neuen Interessenten für ihre menschenverachtenden Inhalte und die Parteiarbeit.
Somit handelt es sich eben nicht „einfach nur um Musik“, wenn junge Menschen Bands aus dem neonazistischem Spektrum hören und zu deren Konzerten gehen. Sowohl die parteiförmig organisierte Szene, als auch die größere freie Neonaziszene gewinnen dadurch maßgeblich ihren Nachwuchs, binden interessierte junge Menschen ein und ideologisieren sie. Dies geschieht durch häufiges Wiederholen der Titel im mp3-Player ebenso wie durch das Erlebnis auf den Konzerten und den Open Airs der NPD. Deshalb richtet die Mobile Beratung in Thüringen (MOBIT) den Fokus der Betrachtung auf die Gesamtheit der Konzerte. Erst im zweiten Schritt ist es von Interesse, ob das Konzert durch die Polizei aufgelöst werden konnte, ob es sich um ein Rockkonzert handelte oder ob die menschenverachtende, antidemokratische Ideologievermittlung beispielsweise per Liedermacher geschieht. Schließlich demonstrieren die seit Jahren hohen Zahlen an Konzerten und Konzertversuchen in Thüringen die zentrale Bedeutung der rechtsextremen Musik für die gesamte Szene.
Warum zählt MOBIT auch aufgelöste Konzerte und erwähnt im Vorfeld unterbundene?
Auch der Versuch Konzerte zu organisieren, selbst wenn es Ordnungsbehörden und Polizei gelingt sie im Vorfeld zu verhindern, sind von Interesse. Gerade das Durchsetzen einer neonazistischen Konzertkultur in Thüringen gegen die Widerstände von Zivilgesellschaft,Anwohnern und staatlichen Behörden veranschaulicht die Unverzichtbarkeit für die Szene. Die Nichtnennung von aufgelösten oder verhinderten Konzerten würde das Gesamtbild im Sinne der oben beschriebenen Wichtigkeit für die extrem rechte Szene verzerren.
Was ist das Besondere an den „Open Air“ – Veranstaltungen?
Aus der Sicht von MOBIT sprechen zwei Gründe für eine besondere Erwähnung der Open Airs. Die NPD bzw. Freie Kräfte meldeten in den vergangenen Jahren jeweils mindestens drei größere Konzerte als politische Kundgebungen nach dem Versammlungsgesetz an. Da das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit in Deutschland ein hohes Gut darstellt und eine jahrelange Praxis in der Auslegung des Versammlungsrechts zu einer großen Sicherheit der extrem rechten Szene führte, avancierte Thüringen in den letzten Jahren zum FestivalBundesland des RechtsRocks. Grundsätzlich ist man in der Wahl seiner Demonstrations- bzw. Kundgebungsform frei und so hat es sich in Thüringen eingeschliffen, dass bei diesen Events abwechselnd Redner und Bands auf der Bühne stehen. Dem Versammlungsrecht ist somit Genüge getan, wenngleich natürlich vor allem die Attraktivität der eingeladenen Bands den Ausschlag gibt anzureisen oder nicht. Die Praxis, die Open-Air-Konzerte als Kundgebungen im Sinne des Versammlungsrechts anzumelden und diese somit unter den grundgesetzlichen Schutz der Versammlungsfreiheit zu stellen, stellt einen besonders erwähnenswerten Umstand dar.
Zum Zweiten ist die beschriebene Praxis ein deutlicher Schritt extrem rechter Ideologie und Alltagskultur in den öffentlichen Raum hinein. Gemäß dem Drei-Säulen-Konzept der NPD verfolgt sie seit über dem Ende der 1990er Jahre die Strategie des Vordringens in den öffentlichen Raum. Die NPD setzt dabei auf einen Gewöhnungseffekt. Beabsichtigt ist, dass die Bevölkerung sich an die Anwesenheit der organisierten und unorganisierten extrem rechten Szene gewöhnt, der Widerstand gegen ihr Vordringen erlahmt und eine „Normalisierung“ im Umgang mit ihr erfolgt. Verschwimmen erst einmal die Grenzen zwischen rassistischer, antisemitischer, nationalistischer Alltagskultur und einem vielfältigen, demokratischen Miteinander, entgrenzt sich nachfolgend auch das Denken. Damit wäre der Weg für die menschenverachtenden inhaltlichen Positionen der NPD wie auch der Freien Kräfte frei – frei weiter in die Mitte der Gesellschaft vorzudringen und das demokratische Miteinander auszuhöhlen. Gerade die Open-Airs der neonazistischen Szene stellen eine Vorschau auf diese skizzierte Möglichkeit dar. Es handelt sich um zeitlich begrenzte „national befreite Zonen“ unter dem Schutz des Versammlungsrechtes, das diese Szene nicht wirklich achtet, sondern nur benutzt, um es später abzuschaffen.
Warum listet MOBIT auch Liederabende auf?
Wie in der Einschätzung zur Bedeutung der extrem rechten Musik bereits erläutert, sieht MOBIT die Attraktivität für die Szene in der Selbstvergewisserung der Konzertteilnehmer und in der gesungenen Vermittlung extrem rechten Gedankenguts. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht daher nicht in welchen subkulturellen Bereich die Besucher oder die Bands einzuordnen sind. Ein Konzert ist auch nicht durch die Verwendung von Schlagzeug, Gitarren o.ä. definiert. Entscheidend ist einzig, dass Musik dargeboten wird und im Falle des sogenannten RechtsRocks, dass menschenverachtende, antidemokratische Inhalte vermittelt werden. Wegen des Minimums an Vorbereitung und Ausstattung ist ein Liederabend die einfachste Art, den versammelten Veranstaltungsbesuchern noch eine kulturelle Abrundung zu bieten. Häufig finden diese Liederabende nach Parteiveranstaltungen und internen Schulungs- bzw. Propagandaveranstaltungen statt und untermalen bzw. verfestigen die vorher erarbeitete politische Agitation. Es handelt sich bei Liederabenden also nicht um ein vernachlässigungswürdiges Beiwerk, sondern um ein im Sinne der Ideologievermittlung vollwertiges Agitationsmittel.
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