Weiter zum Inhalt Skip to table of contents

Torgau Ausbeutung von Rom*nja in der Fleischindustrie

Von|
Viele Rom*nja, die in der Fleischindustrie arbeiten, werden für Jobs speziell angeworben – lange Zeit durch Subunternehmen, über die dann auch die Anstellung erfolgte. So entgingen die deutschen Firmen den vergleichsweise strengen Arbeitsrechtsvorschriften. (Quelle: picture alliance / SZ Photo | Sebastian Gabriel)

In der sächsischen Kleinstadt Torgau brodelt es. Im Mittelpunkt des Unmuts steht der Stadtteil Nordwest. Dort wird das Problem in zwei weiß-blauen Wohnblöcken verortet. Hier sind etwa 250 Menschen unterschiedlichster Nationalitäten gemeldet, die meisten EU-Bürger*innen.

Weil die beiden Wohnblöcke privat vermietet sind, hat die Stadt wenig Handlungsspielraum. In den Zeitungen wird von Kriminalität geschrieben, Ruhestörungen, Vandalismus und illegalen Mülllagern. Die Anwohner*innen sorgen sich um das Image des Viertels. 

Als Verursacher dieser Problemlage werden „die“, „die anderen“ und „die Ausländer“ ausgemacht. So auch auf einem Bürgerdialog Anfang September in einer Sporthalle in Torgau. „Ob die sich da selber wohlfühlen“, „die verdrängen unsere Kinder“, „die arbeiten in der Lebensmittelindustrie“ und das sei doch eklig. Die Torgauer*innen in der Sporthalle beim Bürgerdialog meinen hauptsächlich Roma-Familien, die hier leben. 

Viele der Menschen, die in den beiden Torgauer „Problem-Blöcken“ wohnen, kommen hier her, weil sie hier recht einfach einen Job bekommen, erklärt Timea Capusneanu vom Verein „Romano Sumnal e.V.“, die mit Kindern und Jugendlichen arbeitet. Nur wenige Kilometer von Torgau entfernt liegt die Gemeinde Mockrehna. Hier lässt die „Gräfendorfer Geflügel- und Tiefkühlfeinkost Produktions GmbH“ Hühner rupfen, schlachten und abpacken. Viele der Bewohner*innen der beiden Wohnblocks arbeiten dort, oder haben dort gearbeitet. Hier sei es recht leicht, einen Job zu bekommen.

Deutschland ist der fünftgrößte Geflügelproduzent in Europa. 2022 wurden hierzulande 701,4 Millionen Hühner, Puten und Enten geschlachtet. Allein bei Gräfendorfer verarbeitete man 2018 100.699 Tonnen Masthähnchen und machte 2019 mehr als 150 Millionen Euro Umsatz, berichtet die taz 2021. Diese Massenschlachtungen und der Verkauf für kleines Geld geht dabei nicht nur auf Kosten der Tiere, sondern auch zulasten der Beschäftigen. Am Standort Mockrehna arbeiten etwa 630 Beschäftigte, wie das Unternehmen gegenüber Belltower.News mitteilte. Ein Großteil von ihnen kommt aus Bulgarien, Rumänien oder der Slowakei, viele von ihnen sind Rom*nija.

Die Diskriminierung von Rom*nja ist europäische Tradition

Viele Rom*nja wandern aus ihren Heimatländern aus, weil sie dort häufig rassistisch diskriminiert werden. Oft mit der Folge, dass sie in ärmlichen Verhältnissen, am Rande der Stadt leben und vor Ort keine Arbeit finden. Auch gewalttätige Übergriffe gegen Roma-Familien sind oft auf der Tagesordnung. „Viele der Familien kommen nach Deutschland, weil sie hier überhaupt etwas verdienen können, im Gegensatz zu ihren Herkunftsländern“, erklärt Timea Capusneanu gegenüber Belltower.News. Skrupellose Geschäftsleute nutzen diese prekäre Situation aus und werben die Menschen für den deutschen Billiglohnsektor an. Viele deutsche Fleisch- und Wurst-Unternehmen müssen billig produzieren. Ohne osteuropäische Arbeiter*innen gehe das nicht.

Warum so viele Osteuropäer*innen diesen Job machen? Weil Deutsche ihn nicht machen würden, munkelt man in Torgau. Wie eine kleine Anfrage der Linkspartei von 2019 zeigt, hat sich der Anteil der ausländischen Beschäftigten seit 2008 in der Fleischindustrie verdreifacht.

Die Arbeitsbedingungen: Macht- und Ausbeutungsstrukturen werden aufrechterhalten

In der Fleischindustrie werden besonders häufig Fälle von Ausbeutung von Arbeitskräften und Menschenhandel gemeldet. Rom*nja befinden sich am untersten Ende der Ausbeutungsskala so der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma in einer Untersuchung von 2019. „Die Opfer der Ausbeutung von Arbeitskräften haben berichtet, dass sie Geldstrafen zahlen müssen, wenn die Tiere nicht gemäß den Angaben des Arbeitgebers geschlachtet werden.“ Die Arbeiter*innen leben oft in sehr prekären Verhältnissen.

Das Töten der Tiere, der Gestank und mutmaßliche Verstöße gegen das Arbeitsrecht: Die Arbeitsbedingungen sollen unzumutbar sein, so berichten es zumindest Beobachter*innen. Generell ist die schlecht bezahlte Lohnarbeit im Fleischgewerbe eine enorme Belastung für die Angestellten, physisch und psychisch. Auch die Arbeiter*innen aus Torgau hätten Angst, in den Konflikt zu gehen und für ihre Rechte einzustehen. „Zu groß ist die Angst vor Sanktionen, die ganze Familien hart treffen würden“, so Timea Capusneanu.

Krankschreibungen sollen in der Fleischindustrie schon mal zu Kündigungen geführt haben, wie verschiedene Reportagen berichteten, die Unternehmen widersprechen. Drei Abmahnungen und schließlich die Kündigung landen hier auch schon mal zeitgleich im Briefkasten. 

Viele Rom*nja, die in der Fleischindustrie arbeiten, werden für Jobs speziell angeworben – lange Zeit durch Subunternehmen, über die dann auch die Anstellung erfolgte. So entgingen die deutschen Firmen den vergleichsweise strengen Arbeitsrechtsvorschriften. Die Subunternehmen vermieteten den Arbeiter*innen dann gleich noch Wohnraum, jedoch zu horrenden Preisen. Wenn die Arbeiter*innen nicht so spurten, wie es sich die Vorarbeiter wünschten, oder wenn sie sich auch nur krankmeldeten, drohte die Kündigung. Damit ging oft Wohnungslosigkeit einher. Das System der Leiharbeit ermöglichte es den deutschen Firmen, Verantwortung abzugeben. Sie konnten so gesetzliche Grauzonen ausnutzen und umgingen der Verantwortung, unbefristete Verträge ausstellen zu müssen. Das war lange Zeit Praxis, bis die inhumanen Arbeitsbedingungen zum Beginn der Corona-Pandemie flächendeckend bekannt wurden.

Seit dem 1. Januar 2021 ist es deutschen Schlachthöfen verboten, die Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung von Fleisch in ihren Werken von Subunternehmen erledigen zu lassen. Werkverträge in den Schlachtbetrieben und Leiharbeitsverträge sollen so gesetzlich der Vergangenheit angehören. Eine Recherche der ZDF-Sendung frontal von 2022, beschreibt jedoch, dass das System der Subunternehmen weiterhin laufe, zumindest in Nordrhein-Westfalen. In der Reportage wird das System als mafiös beschrieben. 

Auffällig viele Arbeiter*innen von Gräfendorfer kommen aus dem bulgarischen „Roma-Ghetto“

Vor der Gesetzesverschärfung kamen viele der Arbeiter bei Gräfendorf aus einem Ort in der Slowakei. Vermutlich warben dort die Subunternehmer nach billigen Arbeitskräften. Nach 2021 änderte sich die Situation. Seither kommen auffällig viele Arbeiter*innen aus dem Ort Sliwen in Bulgarien. Etwa 25.000 Rom*nja leben hier unter prekären Bedingungen. Das Viertel, in dem sie leben, heißt Nadeschda, es ist durch eine Betonmauer vom Rest der Stadt abgetrennt. Es ist ein Ghetto, wahrscheinlich eines der größten seiner Art auf dem Balkan. Es gibt Polizeikontrollen. Banken und Apotheken gibt es innerhalb des Viertels nicht. Das Geld, das die Arbeiter*innen in deutschen Fabriken verdienen, ist in Nadeschda viel wert. Es unterstützt hier ganze Familien. 

Rund 12 Millionen Sint*ezza und Rom*nja leben derzeit in Europa. Manche von ihnen am Rande der Gesellschaften und in großer Armut, andere sind vollständig in die Mehrheitsgesellschaften integriert und assimiliert. Sinti*zza und Rom*nja gelten als die größte ethnische Minderheit in Europa – und zugleich als eine der am meisten diskriminierten Gruppen. Die Vorurteile gegen diese Gruppe sind tief verwurzelt im kollektiven Gedächtnis, das zeigen auch immer wieder Studien. Jüngst die Mitte-Studie, laut der etwas mehr als ein Viertel der Befragten, 28 Prozent, Sinti*zza und Rom*nja „eher“ oder „voll und ganz für kriminell“ halten.

Rom*nja stehen seit Jahrhunderten unter Generalverdacht. Einst von den Nazis verfolgt und ermordet, werden sie bis heute als schmutzig, kriminell und primitiv stigmatisiert. In der Not sucht sich die Mehrheitsgesellschaft Schuldige an ihrer Misere und instrumentalisiert die traditionell als Außenseiter konnotierten Gruppen wie Juden und Jüdinnen oder Sint*ezza und Rom*nja als Sündenböcke.

Wie es in Torgau weitergeht, ist ungewiss. Der Bürgerdialog Anfang September war hauptsächlich von Anschuldigungen und Schuldzuweisungen geprägt. Oberbürgermeister Henrik Simon verspricht jedoch im Anschluss, dass man das Thema im Stadtrat weiter diskutieren werde: „Einige Maßnahmen haben wir tatsächlich in der Verwaltung bereits besprochen. Wichtig ist, dass wir auch den Stadtrat dahinter haben.“ 

Mit Recherchen von Noah Lorenz

Weiterlesen

Eine Plattform der