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Überall und ganz alltäglich Antisemitismus in Deutschland heute – Fälle steigen um 40 % in 2021

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Heute erscheint der neue RIAS-Bericht "Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2021". (Quelle: RIAS)

Dass es so krass kommen würde, hat sicher niemand vermutet. Viele hat geschockt, dass auf der documenta 15 neben Israelhass auch noch ganz unverhohlener und offener Judenhass ausgestellt wurde. Es war im Vorfeld kein Geheimnis, dass einige Künstler-Kollektive, die eingeladen waren, der BDS-Kampagne nahestehen. Insofern waren antisemitische Vorfälle leider erwartbar. Dennoch: Die 15. Version dieser renommierten Kunstausstellung dürfte ein Dammbruch sein. Sie reiht sich damit ein in eine Spirale der Radikalisierung und Normalisierung: Antisemitismus wird in Deutschland seit vielen Jahren, aber insbesondere seit der Corona-Pandemie, wieder offener und skrupelloser gezeigt; im Internet, auf Corona-Leugner-Demonstrationen oder antiisraelischen Demonstrationen. Zu dieser Normalisierung tragen auch die Antisemitismusdebatten bei, von Mbembe über die Initiative GG5.3 Weltoffenheit bis zur documenta, weil laute Stimmen hier Antisemitismus zum Streitfall erklären. Ansichten, die vor Jahren noch als extrem galten, werden jetzt als moderat verkauft. Der Antisemitismus nimmt derweil nur zu. Der Jahresbericht, den RIAS heute vorgestellt hat, stützt diese Beobachtung.

Beschwichtig, relativiert, verharmlost – gefährlich

Schlimmer vielleicht noch als das Zeigen dieser antisemitischen Kunst ist der gesellschaftliche Umgang damit. Es wurde beschwichtigt, relativiert, verharmlost, wenn nicht geleugnet. Solange, bis es nicht mehr anders ging und das Offensichtliche nicht mehr zu leugnen war. Zumindest das krasseste Kunstwerk musste abgehangen werden. Der Rest bleibt. Erstmal. Der Umgang mit diesem Antisemitismus lässt vor allem anderen eines vermissen: Empathie mit den Betroffenen, mit Jüdinnen:Juden. Jüdische Organisationen haben teils seit Monaten gewarnt und ihre Sorgen formuliert. Sie wurden ignoriert. Noch jetzt werden sie systematisch aus der Erzählung, wie es zum “Skandal” auf der Documenta kam, heraus formuliert. Das Ganze sei ein Streit zwischen „Antideutschen“ und Globalem Süden, musste ich lesen.

RIAS-Zahlen: 2738 antisemtische Vorfälle 2021

Gut, dass gerade jetzt, zur richtigen Zeit, ein Verbund von Organisationen seinen Jahresbericht zum Antisemitismus im Jahr 2021 vorstellt, der diesen Betroffenen systematisch und qua Auftrag zuhört. Bei RIAS können Personen antisemitische Vorfälle melden, die sie betreffen oder die sie mitbekommen. Neben den Daten des Bundesverbandes flossen in den Jahresbericht 2021 Meldungen aus acht regionalen RIAS-Meldestellen ein. Einige davon sind zum ersten Mal dabei. Das heißt, dieser Jahresbericht bildet so viele deutsche Regionen ab wie keiner zuvor. Das Ergebnis überrascht nicht, aber es erschreckt: 2021 wurden 2.738 antisemitische Vorfälle gemeldet, mehr als 40 % mehr als noch 2020, was wiederum damals ein Höchststand mit 1.957 Vorfällen war.

Es zeigt sich deutlich, dass Anlässe wie die Corona-Pandemie, aber auch der palästinensisch-israelische Konflikt genutzt werden, um Antisemitismus zu verbreiten. (Im nächsten Jahr taucht als Anlass sicher der Ukraine-Krieg auf.) Demnach verwundert es nicht, dass Schuldabwehr-Antisemitismus (wie er sich zum Beispiel im Tragen des „Ungeimpft“-Sterns zeigt) zusammen mit israelbezogenem Antisemitismus auch 2021 die am häufigsten vorkommenden Erscheinungsformen des Antisemitismus ist. Vorfälle reichen dabei von Hasszuschriften über Bedrohungen, Sachbeschädigungen und Angriffen bis zu extremer Gewalt wie Mord. Denn es bleibt nicht bei abwertenden Posts oder krassen Demotransparenten. Aus Worten werden Taten. Schon wenige Tage, nachdem die Hamas durch massiven Raketenbeschuss auf Israel eine neue Eskalation auslöste, verzeichneten „die RIAS-Meldestellen zehn Angriffe, 16 gezielte Sachbeschädigungen und 14 Bedrohungen mit Bezug zu dem [Nahost]-Konflikt.“ Es ist bizarr, dass man es sagen muss, aber man kann es gar nicht oft genug sagen: Auch der israelbezogene Antisemitismus führt zu Hass und Gewalt gegen Jüdinnen:Juden, auch gegen solche, die hier leben. Israelhass und Judenhass lassen sich nicht trennen. Die documenta 15 sollte hier ein Weckruf sein. Denn der Jahresbericht von RIAS zeigt noch einmal nachdrücklich, was alle wissen können, dass Antisemitismus grassiert und Jüdinnen:Juden ganz alltäglich und überall betrifft.

Wir sind erst dabei, das Ausmaß zu erfassen

Eins ist klar: desto länger die regionalen Meldestrukturen bestehen, desto mehr Betroffene melden sich auch. Das heißt, erst in einigen Jahren werden wir ein genaues Bild des Antisemitismus in Deutschland haben. Erst nach und nach lässt sich das Dunkelfeld erhellen – und es wird sich nie ganz erhellen lassen. Es sind noch gar nicht alle Bundesländer systematisch in diesem Meldesystem integriert. Im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westalfen mit der drittgrößten jüdischen Gemeinde Deutschlands (Düsseldorf), hat die Meldestelle SABRA ihre Arbeit gerade erst begonnen. Hier sind viele Meldungen in den nächsten Jahren zu erwarten.

Die Sammlung dieser Meldungen ist nicht nur eine Frage von Datenerhebung und Systematisierung. Es ist auch eine Frage des Vertrauens. Die Meldestellen arbeiten dann gut, wenn sie das Vertrauen der jüdischen Gemeinden und Organisationen sowie der einzelnen Jüdinnen:Juden genießen. Wo das nicht der Fall ist, werden die von Antisemitismus Betroffenen sich auch nicht mit antisemitischen Vorfällen melden. Der Umgang mit dem Antisemitismus auf der documenta 15 ist alles andere als hilfreich. Sie zeigt den Betroffenen einmal mehr, dass sie nicht gehört werden, im schlimmsten Fall, dass sie als Störenfriede gesehen werden, die mit der Antisemitismuskeule um sich hauen. Es liegt an uns allen, dass dieses Klima sich endlich ändert. Bevor es zu spät ist.

 

RIAS online:

https://report-antisemitism.de/

Den RIAS-Bericht „Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2021“ als PDF :
https://report-antisemitism.de/documents/Antisemitische_Vorfaelle_in_Deutschland_Jahresbericht_RIAS_Bund_2021.pdf

Zahlen aus dem Report:

2021 dokumentierte RIAS
6 Fälle extremer Gewalt
63 Angriffe
204 gezielte Sachbeschädigungen
101 Bedrohungen
182 Massenzuschriften
2.182 Fälle verletzenden Verhaltens, davon 449 Versammlungen

Verschränkungen antisemitischer Vorfälle mit anderen Ideologien
der Ungleichheit 2021

204 Fälle: Rassismus und Antisemitismus
91 Fälle:
Sexismus und Antisemitismus
36 Fälle: LGBTQI-Feindlichkeit und Antisemitismus
6 Fälle: Antiziganismus und Antisemitismus
12 Fälle:
sonstige Ideologien und Antisemitismus

Zahlen aus dem Report

Nikolas Lelle leitete die Aktionswochen gegen Antisemitismus der Amadeu Antonio Stiftung.

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