Auch am Wochenende vom 21. und 22. November 2020 fanden in Deutschland wieder Demonstrationen der „Querdenken“-Bewegung statt. Die Bewegung radikalisiert sich weiter, aber wird auch immer öfter mit Gegenprotest konfrontiert.
Mehr Gegenproteste in Berlin
Das hat sich an diesem Wochenende unter anderem in Berlin und Leipzig gezeigt. Ein Berliner Schweigemarsch mit 1.000 „Querdenker*innen“ wurde am Samstag von lautstarkem Protest von Passant*innen und Anwohner*innen begleitet. Womöglich eine neue Erfahrung für die Teilnehmenden, die sonst auf der Straße des 17. Juni zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule demonstrieren und im Berliner Tiergarten keine Widerrede ertragen müssen.
Unter lauter Musik und immer wieder mit Gegendemos und „Wir impfen euch alle!“-Sprechchören konfrontiert, zog der Schweigemarsch durch Prenzlauer Berg bis zum Alexanderplatz. Von Balkonen, aus Fenstern und von Brücken hingen Plakate mit Aufschriften wie „Schön, dass ihr endlich mal die Fresse haltet“ oder „Queerdenken“. Dabei war der Aufzug kleiner als erwartete. 5.000 Teilnehmende waren angemeldet, gekommen waren nur 1.000. Rund 600 Polizist*innen waren im Einsatz.
Wieder Übergriffe auf Journalist*innen in Leipzig
Auch in Leipzig kam es zu Protesten gegen den Aufmarsch der Coronaleugner*innen am Samstag. Mehrere hundert Menschen beteiligten sich an unterschiedlichen Protesten in der Innenstadt. Währenddessen wurde die „Querdenken“-Demonstration kurzfristig abgesagt. Der Anmelder der Demo war nicht dazu bereit eine Maske zu tragen und konnte der Polizei kein ausreichendes Attest präsentieren, dass ihn vom Tragen befreit hätte.
Mehrere hundert, zum Teil alkoholisierte Rechtsextreme, Hooligans und „Coronagegner*innen“ schlossen sich für nichtgenehmigte Spontanversammlungen zusammen. Immer wieder trafen „Corona-Leugner*innen“ und Gegendemostrant*innen aufeinander. Journalist*innen berichten von Angriffen und Bedrohungen.
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Eine Reporterin des Portals „Volksverpetzer“ wird als „Antifa-Schlampe“ beleidigt und körperlich bedroht. Die Polizei hilft höchstens widerwillig.
Und dann noch „Jana aus Kassel“
Zur zweifelhaften Berühmtheit hat es an diesem „Querdenken“-Wochenende für eine Rednerin auf einer Demo in Hannover gereicht. Die Frau, die sich als „Jana aus Kassel“ vorstellt, erzählt mit von Selbtsrührung erfüllter Stimme auf der Bühne, sie fühle sich wie Sophie Scholl: „Weil ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin, Reden halte, auf Demos gehe, Flyer verteile und auch seit gestern Versammlungen anmelde.“ Beifall aus dem Publikum.
Einem Mann scheint das Ganze zu viel zu sein. Er läuft nach vorne, gibt der Rednerin seine Warnweste und sagt: „Für den Schwachsinn mach‘ ich doch kein Ordner mehr. Das ist eine Verharmlosung des Holocaust.“ Jana aus Kassel antwortet: „Hä? Ich hab doch gar nichts gesagt.“ Schließlich dreht sie sich um, fängt an zu weinen, wirft das Mikrofon und ihr Redemanuskript auf die zu Boden und stürmt nach der schmerzlichen Erfahrung, dass Meinungsfreiheit keine Widerspruchsfreiheit ist, von der Bühne.
Laut eine Berichts der Hannoverschen Allgemeinen handelt es sich bei dem angeblichen Ordner um einen Mann aus der „linksradikalen Szene“. Angeblich hätten sich mehrere Personen als Ordner verkleidet, unter die „Querdenker*innen“ gemischt. Tatsächlich erscheint es auch unrealistisch, dass ein Ordner aus dem Umfeld der Bewegung, der mehr als einmal an einer „Querdenken“-Veranstaltung teilgenommen hat, von solchen Redebeiträgen geschockt sein könnte. Immerhin gehören NS- und Holocaustrelativierungen zum festen Repertoire der Szene. Auf einer Demo in Karlsruhe hatte eine Elf-Jährige sich mit Anne Frank verglichen, weil sie ihren Geburtstag unter Corona-Auflagen feiern musste.
Jana aus Kassel braucht nicht besonders lange, bis sie sich erholt hat. Wenig später steht sie wieder auf der Bühne: „Also fangen wir nochmal an. Ich komm aus Kassel, bin 22 Jahre alt und fühle mich eben, wie ich vorhin schon gesagt habe, wirklich wie Sophie Scholl, weil ich auch gleich alt wie sie bin.“ Das Publikum klatscht.
Sophie Scholl war Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ im Nationalsozialismus. Am 18. Februar 1943 wurde sie bei einer Flugblattaktion in der Münchner Universität zusammen mit ihrem Bruder Hans Scholl verhaftet. Danach wurde sie in der Münchner Gestapo-Zentrale tagelang verhört. Am 22. Februar wurde sie von Richter Roland Freisler wegen „landesverräterischer Feindbegünstigung, Vorbereitung zum Hochverrat [und] Wehrkraftzersetzung“ zum Tod verurteilt. Noch am selben Tag wurde Sophie Scholl, ihr Bruder Hans Scholl und Christoph Probst mit einer Guillotine enthauptet.
Die relativierende Selbstbeweihräucherung von Jana aus Kassel ist das neueste Symbol der massiven Empathielosigkeit und Geschichtsvergessenheit der „Querdenker*innen“ geworden. Die 22-Jährige hat offenbar jedes Maß verloren. Damit steht sie nicht alleine da. Denn der angebliche „Ordner“ ist die einzige vernehmbare Gegenstimme. Ansonsten gibt es Applaus für den Vergleich der Frau. „Lass sie doch in Ruhe reden“, heißt es aus dem Publikum.