In den letzten Wochen häufen sich Berichte über Übergriffe und Ausschreitungen seitens „Querdenker:innen“ und Impfgegner:innen. Eine mutmaßlich impfgegnerische Krankenschwester soll über 10.000 Menschenleben gefährdet haben, weil sie statt eines Corona-Vakzins Kochsalzlösung verimpft haben soll. Und zur traurigen Realität gehört auch, dass täglich Ärzt:innen, Schulpersonal und Polizist:innen bedroht werden, weil sie sich für die Corona-Schutzverordnungen befolgen.
Den grausamsten Fall stellt dabei die Krankenschwester im niedersächsischen Friesland dar, die nach aktuellem Ermittlungsstand vermutlich mehr als 10.000 Menschen gefährdet hat, weil sie Kochsalzlösung statt Biontech-Impfstoff verabreicht haben soll und so Menschen, die auch überwiegend zu Risikogruppen gehören, in massive Gefahr gebracht habe (vgl. Spiegel). Laut polizeilichen Aussagen habe die Frau auf Facebook und Whatsapp mehrere Posts geteilt, in denen sie das Coronavirus leugnet und vor den Gefahren einer Impfung gewarnt haben soll. Die Krankenschwester streitet einen Vorsatz ab, will tatsächlich nur in sechs Fällen „falschen“ Impfstoff gespritzt haben, weil ihre Ampullen heruntergefallen seien – aber das sei keine reine Kochsalzlösung gewesen, sie habe Impfstoff aus zwei Ampullen auf sechs Ampullen verteilt und aufgefüllt.
Zeugenaussagen lassen allerdings auf eine größere Dimension schließen. Am Dienstag, dem 10. August, hatten Landkreis und Polizei mitgeteilt, dass nach weiteren Zeugenaussagen nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Frau bereits zuvor Spritzen mit Kochsalzlösungen aufgezogen habe und weitere Personen daher keinen ausreichenden Impfschutz gegen Covid-19 hätten. Insgesamt 10.183 sollen daher nun nachgeimpft werden – etwa jede:r zehnte Einwohner:in von Friesland. Laut Staatsanwaltschaft Oldenburg gibt es außerdem einen Anfangsverdacht, dass die Krankenschwester selbst nicht geimpft sei und einen manipulierten Impfausweis und ein manipuliertes Ersatzdokument verwendet habe. Dieses weise aus, sie hätte vor einer Zeugin selbst mit Kochsalzlösung die eigene Impfung vortäuschen wollen. Im Impfausweis stehe eine Impfung, die sie nie bekommen hat (vgl. Tagesspiegel, t-online). „Querdenken“ jedenfalls feiert die Krankenschwester. Anwalt Markus Haintz kommentierte etwa auf Telegram: „Panne? Sabotage? Oder vielleicht Nothilfe?“. Haintz schiebt den passenden Paragrafen hinterher: 32, Strafgesetzbuch, Notwehr. Auf anderen Kanälen wird man noch deutlicher. „Ehrenfrau!“, schreibt ein Nutzer auf Twitter (vgl. taz). Eine Impfgegnerin, die sich in ein Impfzentrum einschleicht, um anderen Menschen die freie Entscheidung zu nehmen, die sie für sich selbst fordert, wäre jedenfalls eine neue Eskalationsstufe von Impfgegnertum. Die Ermittlungen laufen.
Radikalisierung der Szene war abzusehen
Doch der August hatte auch schon gewaltvoll begonnen: Nach den Ausschreitungen nach einer nicht genehmigten Demonstration am 1. August in Berlin wurde der tragische Tod eines Demonstranten in den sozialen Medien instrumentalisiert, um vermeintliche Polizeigewalt anzuprangern. Die Polizei anzugehen, war bereits im Vorfeld der Plan von „Querdenken“ gewesen: In einer Pressemitteilung von „Querdenken“ war bereits im Vorhinein vor einer möglichen „Überforderung der Polizei“ gewarnt worden und Bedenken in Bezug auf das Sicherheitskonzept geäußert worden, da „bereits im Kooperationsgespräch auf die Situation in Duisburg/Loveparade hingewiesen“ wurde. Trotz angeblicher Sicherheitsbedenken marschierten die Anhänger:innen durch Berlin. Bisherige Bilanz: über 503 Ermittlungsverfahren, worunter in 59 Fällen wegen Widerstands und in 43 Fällen wegen tätlichen Angriffs gegen Vollstreckungsbeamt:innen ermittelt wird. Hier sind Radikalisierungstendenzen zu erkennen, auf die Beobachter:innen der Szene seit dem letzten Jahr hingewiesen hatten.
Vergleicht man die aktuelle mit der historischen impfkritischen Bewegung des 19. Jahrhunderts, so zeigen sich strukturelle Ähnlichkeiten, wie der Forscher Mathias Berek in einem Interview mit der ZEIT herausstellt. Danach gelte für Akteur:innen damals wie heute, dass sich eine relativ kleine ideologisch gefestigte Minderheit einer weitaus größeren und ideologisch noch ungefestigten Bewegung anschließt und dann ihre antisemitischen Ideen weiter verbreitet. Jedoch stellt das Spektrum der impfkritischen Szene keine naiven Mitläufer:innen dar. Vielmehr zeigen sich hier Anschlussfähigkeiten und Überschneidungen rechter Ideologien mit den Ideen von Menschen, die sowohl Verschwörungsideologien wie auch einem mystischen Naturglauben mit sozialdarwinistischen Anstrich nahestehen. Beide vereint die Vorstellung des „survival of the fittest“, wenn auch zunächst aus anderen Gründen. Der Bundesverband Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) verwies in einer Studie auf das steigende Verschwörungsdenken seit Ausbruch der Pandemie. Dabei fantasieren Impfkritiker:innen vor der Gefahr einer „neue Weltordnung“ die es zu verhindern gilt oder der Gefahr vor „Mikrochips“ und „Todesspritzen“ die mit einer Impfung gegen Covid-19 drohen würden.
Dabei nehmen koordinierte Angriffe aus dem Spektrum von „Querdenken“ zu. Nach der Demonstration am 1. August in Berlin kursieren in rechten Medien Fotos von Beamt:innen, die bei der Demonstration im Einsatz waren. Dabei wurde gefordert, die Identität der Polizist:innen herauszufinden, um „Hausbesuche“ zu planen und gemeinsam möglichst viele Strafanzeigen gegen diese zu erstatten. So schreibt etwa ein „Querdenken“-Aktivist in einem Telegram-Kanal nach der Demo, dass Attacken auf Polizeibeamte eine „gute Idee“ seien. Laut Angaben der Polizei sind allein am 1. August über 60 Polizist:innen körperlich verletzt worden. Die Gewalt, die von „Querdenken“ ausgeht, scheint sich durch die letzten Ausschreitungen deutschlandweit nur weiter zu verstärken.
Drohbriefe an RKI und Schulen
Auch der Leiter des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, ist seit Ausbruch der Pandemie massiven Anfeindungen ausgesetzt, wie er nun erstmals im Podcast „The Pioneer“ öffentlich bekannt gab. Die Bedrohungslage sei nach Aussagen des Landeskriminalamtes so massiv, dass ihm von Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln abgeraten wird. In Mühlhausen hat eine Gruppe von neun „Reichsbürgern“, die bereits in der Vergangenheit durch die Teilnahme an sogenannten „Hygienespaziergängen“ auffiel, sich der Maskenpflicht in einem Kaufhaus widersetzt. Bei der offenbar geplanten Aktion der „Reichsbürger“ wurde eine Polizistin beim Versuch, diese nach draußen zu führen, verletzt.
In einem anderen Fall ging an einer Gemeinschaftsschule in einem Dorf nahe Lübeck ein anonymer Drohbrief ein. Danach solle ein Anschlag erfolgen, wenn es zu einer Impfaktion an der Schule kommen würde. Laut der Lübecker Zeitung wurden dabei auch namentlich Lehrer:innen gelistet, die bei einer möglichen „Vergiftung“ der Kinder mit Gewalt rechnen müssten. Die Drohungen an die Schule stehen dabei vermutlich mit der geplanten Impfaktion in Schleswig-Holstein in Verbindung, bei der noch im August mit Impfungen an Schulen begonnen werden soll.
In Osnabrück wird momentan gegen über 40 Corona-Impfgegner:innen ermittelt, die mutmaßlich Hassnachrichten an einen Arzt und seine Mitarbeiter:innen verschickten. Zuvor weigerte sich dieser Corona-Leugner:innen in seiner Praxis zu behandeln. Einige Tatverdächtige konnten dabei direkt ermittelt werden, da deren Hassmails sogar mit Klarnamen vollständig unterzeichnet wurden. Aufgrund der starken Bedrohungslage steht der Arzt nun unter Polizeischutz. Neben der Zunahme an Gewalt gegen Journalist:innen und Polizeibeamt:innen, die zum „angestammten“ Feindbild der „Querdenken“-Szene gehört, werden nun auch immer mehr zivilgesellschaftliche Akteur:innen bedroht.