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Und jetzt? Stimmen zum NSU-Urteil „Geradezu eine Aufforderung an Neonazis, weiter zu machen“

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Protestaktion vor dem Gerichtsgebäude in München währen der Urteilsverkündung im NSU-Prozess am 11.07.2018 (Quelle: AAS)

Die Strafmaße stehen: Beate Zschäpe ist wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und als Mittäterin bei 10 Morden, 2 Bombenanschlägen, 17 Raubüberfällen, einem Mordversuch auf zwei Polizeibeamte und eine Brandlegung zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Sicherheitsverwahrung wird nicht verhängt, aber eine besondere schwere der Schuld festgestellt – das heißt, sie kann nicht mit einer frühzeitigen Haftentlassung rechnen. Ralf Wohlleben wird als schuldig der Beihilfe zum Mord durch Lieferung einer Tatwaffe in neun Fällen erkannt – 10 Jahre Haft. Gefordert hatte die Staatsanwaltschaft 12 Jahre. André Eminger ist der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung schuldig gesprochen worden, nicht aber der Beihilfe zum Mord. Er ist zu 2 Jahren und sechs Monate Haft verurteilt worden, obwohl die Staatsanwaltschaft 12 Jahre wegen Beihilfe zu den Morden gefordert hatte – und bekommt damit sogar weniger Strafe als der geständige und bei der Aufklärung hilfreiche Rechtsextremismus-Aussteiger Carsten Schultze, der wegen Beihilfe zum Mord zu 3 Jahren Haft nach Jugendstrafrecht verurteilt wurde. Holger Gerlach wird wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu 3 Jahren Haft verurteilt (stat 5, die die Staatsanwaltschaft forderte).

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Insofern fallen alle verhängten Strafen niedriger aus, als von der Staatanwaltschaft gefordert, außer der Strafe für den einzigen Angeklagten, der sich als Aussteiger glaubhaft von der rechtsextremen Szene distanziert und bei der Aufklärung der Verbrechen des NSU aktiv geholfen hat. 

 

Einschätzungen zum Urteil

Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler sagt Belltower.News am Telefon: „Das Urteil gegen Zschäpe ist konsequent. Die Urteile gegen André E. und Ralf Wohlleben sind dagegen zu milde ausgefallen. Gerade die zweieinhalb Jahre für E. sind ein verheerendes Signal an die Nazi-Szene. Das er geschwiegen hat, ist sein gutes Recht. Aber es hat sich für ihn gelohnt, nicht mit dem Gericht zusammenzuarbeiten.“

Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann sagt bei einer Kundgebung vor dem Gerichtsgebäude: „Auf den zweiten Blick ist das Urteil ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die sich für Aufklärung eingesetzt haben, die Aufklärung des gesamten NSU-Komplexes. Zwar wurde Beate Zschäpe (…) zu lebenslang verurteilt, mit besondere Schwere der Schuld. Sie wird also keine Möglichkeit haben, schon nach 15 Jahren entlassen zu werden. Aber die Personen, die Beihilfe zum Mord verübt haben, haben sehr milde Strafen erhalten. Ralf Wohlleben ist verurteilt worden, weil er Beihilfe am Mord von 9 Personen verübt hat. Er ist zu 10 Jahren verurteilt worden – das kann heißen, dass er als freier Mann hier herausgeht bis zur Revision. Und dann gegebenenfalls wieder ins Gefängnis kommt. Andre Eminger, der den NSU von 1998 bis 2011 unterstützt hat, ist freigesprochen worden von der Beihilfe des versuchten Mordes bei der ersten Bombe in Köln. Er ist verurteilt worden zu einer Strafe von 2 Jahren und 6 Monaten. Er ist Unterstützer einer terroristischen Organisation von 1998 bis 2011, und bekommt dafür 2 Jahre und 6 Monate! In welchem anderen Terrorverfahren, gegen Islamisten, gegen Linke, hätte es eine solche Strafe gegeben? Für einen Steinwurf bei G20 gibt es mehr! Der vorsitzende Richter, Manfred Götzl, hat viele Urteile gefällt. Er hat noch nie ein mildes Urteil gefällt. Warum gibt es dieses milde Urteil, was ist der Sinn dahinter? Es hat nur ein Ziel: Die falsche Anklage, die Lüge vom isolierten Trio, soll aufrecht gehalten werden. Um jeden Preis soll es nur drei Täter gegeben haben. Und in diesem Zusammenhang hätte es nicht gepasst, wenn man hätte feststellen müssen, dass etwa Wohlleben nicht nur die Waffe besorgt hat, sondern die Gruppe über lange Zeit unterstützt hat, schon lange Mitglied in der Gruppe war, und dass Eminger über so einen langen Zeitraum Unterstützungsleitungen gemacht hat. Es war eben so, dass nach der Beweisaufnahme klar war, dass die drei in Chemnitz durch die Unterstützung von Blood and Honour Sachsen mit allen versorgt wurden, dass da ein ganzes Netzwerk existierte, dass bereit war, die Kameraden mit Waffen zu versorgen, mit Geld, mit allem, was sie brauchen. Wir konnten herausarbeiten, dass es deutlich mehr Unterstützung gab, sogar Mitglieder des NSU. Wir haben erfolgreich deutlich gemacht, dass wir erst am Anfang der Aufklärung sind über Nazis in Deutschland und die Verstrickung des Verfassungsschutzes. (…) Der Staatsschutzsenat versucht hier, den Schlussstrich zu ziehen. Was ist die Botschaft dieses Urteils? Nazis können losziehen, können über zwei Jahrzehnte bewaffnete Personen unterstützen, und gehen mit zweieinhalb bis drei Jahren Haft hier heraus. Das ist eine Aufforderung an Neonazis, weiter zu machen!“

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Elif Kubaşik, Witwe des durch den NSU ermordeten Mehmet Kubaşik, kommentierte das Strafmaß beiden Angeklagten ironisch: „Vielen Dank an das Gericht für diesen weiteren schweren Schlag durch das milde Urteil vor allem gegen die Angeklagten Eminger und Wohlleben.“ (vgl. ZEIT).

 

Beobachtungen in München

Rachel Spicker von der Amadeu Antonio Stiftung beobachtet die Gegenkundgebungen vor dem Gerichtsgebäude und berichtet: „Die Stimmung hier ist von Unmut und Ratlosigkeit geprägt. Warum haben das milde Urteil gegen Eminger, das harte gegen Carsten Schultze? Warum benennt der Richter wirklich keine weiteren Teile des NSU-Netzwerks außer den Angeklagten? Menschen, die den Prozess beobachten wollten, haben seit Mitternacht angestanden. Das haben auch viele Rechtsextreme aus dem Umfeld der Kameradschaft Süd, die heute zu ‚Die Rechte‘ gehören, gemacht. Sie sind vor allem als Anhänger von André Eminger und Ralf Wohlleben hier. Es sind Rechtsextreme aus Bayern und Thüringen, und sie haben von Anfang an andere in der Schlange angestarrt und angepöbelt, Migrant*innen, Journalist*innen, Aktivist*innen. Mindestens 15 Rechtsexterme, 13 Männer und 2 Frauen, sind auch auf die Zuschauertribüne gekommen.“

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Eine weitere Kollegin beobachtete den Prozess von der Zuschauertribüne: „Wo ich sitze, sitzen auch rund 10 Neonazis, die immer wieder auch Stress mit den Umsitzenden anfangen. Die Stimmung ist angestrengt. Bei der Urteilsverkündung rief Ismail Yozgat, der Vater des ermordeten Halit Yozgat, auf Arabisch: ‚Es gibt keinen Gott außer Gott!‘ als Ausruf der Verzweiflung – und Richter Götzl wies ihn sofort zurecht, er brauche Ruhe im Gerichtssaal. Als das Urteil für André Eminger verkündet wurde, klatschten die Neonazis auf der Tribüne – und wurden nicht zurechtgewiesen. In der Pause kommentierte einer der Neonazis: ‚Wir haben gewonnen.‘ Gut allerdings: Richter Götzl nimmt Beate Zschäpe als Täterin sehr ernst, nutzt im Bezug auf die Morde Formulierungen wie ‚im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit Frau Zschäpe‘. Später sagt Richter Götzl, er habe „Zweifel an der Glaubwürdigkeit großer Teile“ der Einlassung von Beate Zschäpe. Sie habe deutliche Tatbeiträge geleistet durch die Vernichtung von Beweismaterial und Veröffentlichung des Bekennervideos. Die Ideologie des NSU beschreibt er als ‚ausländerfeindlich, antisemitisch und staatsfeindlich‘. Als er am Ende der Urteilsverkündung erklärt, dass die Vorwürfe der Beihilfe zum Mord gegen André Eminger nicht zu halten wären und verkündet, dass dieser das Gericht heute abend verlassen darf, weil der Haftbefehl aufgehoben wird, klatschen und johlen die Neonazis auf der Tribüne. Über Ralf Wohlleben sagt Götzl, der sei ja ‚besonders haftempfindlich‘, da er Familenvater sei.“

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