Am 1. September 2019 findet in Chemnitz ein Trauermarsch der AfD statt. Rechtsextreme Hooligans, NPDler und Neonazis marschierten hinter den AfD-Politikern Björn Höcke, Uwe Junge und dem später aus der Partei ausgeschlossenen Andreas Kalbitz her. In der ersten Reihe standen auch Lutz Bachmann und Siegfried Däbritz von Pegida. Martin Sellner von der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ war vor Ort, genauso wie Götz Kubitschek, einer der Vordenker der sogenannten „neuen“ Rechten. Ebenfalls unter den Teilnehmenden befand sich der spätere Mörder von Walter Lübcke und sein Mitangeklagter. Danach „stand fest, dass wir das machen“ sagt der Mörder später in einer Vernehmung. Gemeinsam waren die beiden zur Demo an- und wieder abgereist. Schon vorher hatten sie Pläne gegen Walter Lübcke geschmiedet aber auf der Rückfahrt sei der Entschluss zum Handeln gefallen.
Schlussendlich hat nur eine Person abgedrückt und Walter Lübcke getötet. Dafür wurde der Mörder am 28. Januar 2021 zu lebenslanger Haft verurteilt, das Gericht stellte eine besondere Schwere der Schuld fest. Aber wer trägt Mitverantwortung? Die AfD weist diese jedenfalls weit von sich. Auch als sich herausstellt, dass der spätere Mörder im Wahlkampf der rechtsradikalen Partei geholfen hatte, hielt Parteichef Jörg Meuthen es für „vollkommen abwegig, die AfD mit dieser Tat eines Rechtsterroristen in Verbindung zu bringen, nur weil wir Lübckes Äußerung zur Flüchtlingspolitik – wie andere auch – natürlich kritisiert haben.“ Der Prozess konnte diese Frage nach gesellschaftlicher und politischer Verantwortung nicht beantworten.
Auch auf privater und persönlicher Ebene fehlt es an Antworten. Wie im Fall des Mitangeklagten, dem von der Staatsanwaltschaft „psychische Beihilfe“ vorgeworfen wurde. Sie forderte dafür fast zehn Jahre Haft, dem kam das Gericht nicht nach. Der Mitangeklagte des Mörders, der im Verfahren von zwei Szeneanwält*innen vertreten wurde, kam mit einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten davon, die nicht für Beihilfe oder Mittäterschaft ausgesprochen wurde, sondern für unerlaubten Waffenbesitz. Der Mörder von Walter Lübcke hatte immer wieder betont, wie sehr sein Mitangeklagter ihn radikalisiert habe. Dass es sich bei ihm um einen Neonazi mit gefestigtem rechtsextremen Weltbild handelt, steht nicht in Frage. Bei einer Hausdurchsuchung wurden neben einschlägigem Material unter anderem auch eine originale Zyklon-B-Dose gefunden, die er als Stifthalter verwendet hatte. Seit den 90er Jahren gehört er zur Neonaziszene in Kassel. Eine direkte Verbindung zur Tat konnten die Ermittler ihm trotz der Aussagen des Hauptangeklagten nie nachweisen.
Die beiden Angeklagten kannten sich von früher – der Mörder hatte ausgesagt, sich eine Zeitlang aus der Szene verabschiedet zu haben – und trafen sich aber an der gemeinsamen Arbeitsstelle wieder. Sie freundeten sich neu an und besuchten gemeinsam rechtsextreme Demos. Der Mitangeklagte nahm den Mörder mit in seinen Schützenverein und übte auch heimlich mit ihm im Wald schießen. Zusammen mit dem späteren Mörder besuchte der Mitangeklagte die Bürgerversammlung in Lohfelden, auf der Walter Lübcke gesprochen hatte. Der Regierungspräsident hatte damals gesagt: „Ich würde sagen, es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Da muss man für Werte eintreten. Und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist.“ Der Mitangeklagte filmte die Aussage und stellt sie ins Netz. Das Video wurde auf muslimfeindlichen Seiten wie „PI News“ geteilt, auch das frühere CDU-Mitglied Erika Steinbach, die heute Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung ist, verbreitete den Film noch Jahre später. Auch hier stellt sich die Frage nach der Verantwortung: der für die Verbreitung des Videos aber eben auch nach der persönlichen Verantwortung des Mitangeklagten. Die Familie von Walter Lübcke, die als Nebenklage im Prozess auftrat, ist von der Mitschuld überzeugt. Dafür sprechen 30 Indizien, die der Anwalt der Familie in seinem Schlussplädoyer aufzeigte. Tatsächliche Beweise gab es aber offenbar zu wenige. Der Mitangeklagte schwieg zu den Vorwürfen.
Zahlreiche weitere Fragen bleiben offen und auch hier geht es um Verantwortung. Denn genau wie schon im NSU-Verfahren ist auch in diesem Fall die Rolle von Sicherheitsbehörden und Verfassungsschutz bestenfalls fragwürdig. Tatsächlich gibt es einige direkte Verbindungen zwischen den beiden Fällen. Beide Angeklagte im Fall Lübcke waren jahrelang Teil der kleinen Neonaziszene aus Kassel, die gute Verbindungen zum NSU pflegte. Der Name des Mörders taucht in Akten auf, die von Andreas Temme bearbeitet wurden, jenem Verfassungsschützer, der sich in dem Internetcafé in Kassel aufhielt, in dem Halit Yozgat vom NSU ermordet wurde. Temme will den NSU-Anschlag nicht bemerkt haben. Der Verfassungsschutz hat den mehrfach vorbestraften Mörder von Walter Lübcke noch 2009 als sehr gefährlich und ihn dann schließlich doch als „abgekühlt“ eingestuft und seine Beobachtung eingestellt. Trotzdem wurde in einem Geheimbericht von 2013, der im NSU-Untersuchungsausschuss öffentlich wurde, der Name des späteren Mörders 13 Mal erwähnt. Schon wieder ist die Rolle der Sicherheitsbehörden dubios. Und schon wieder häufen sich Fehler und falsche Einschätzungen.
Nicht aufgeklärt bleibt auch der versuchte Mord an Ahmed I. Er wurde im Januar 2016 von einem Mann auf einem Fahrrad mit einem Messer von hinten schwer verletzt. In der Vernehmung gab der Mörder von Walter Lübcke an, dass er im Januar 2016 einen „Ausländer“ getroffen habe, während er, aufgebracht durch die Ereignisse der Silvesternacht in Köln, dabei war, Wahlplakate der Grünen und SPD abzureißen. Er hätte ihn angeschrien und bedroht, einen Angriff bestritt er. Ein Täter für den Angriff auf Ahmed I. wurde nie gefunden. Bei einer erneuten Durchsuchung bei fand die Polizei ein Messer mit DNA-Spuren im Keller des Hauses des Angeklagten, die laut einem Experten mit einiger Wahrscheinlichkeit von I. stammen könnten. Ahmed I. war neben der Familie von Walter Lübcke nun Nebenkläger im Prozess. Der Angeklagte wurde zwar des Mordes an Walter Lübcke schuldig gesprochen, wegen des versuchten Mordes an Ahmet I. wurde er jedoch nicht verurteilt. Das Gericht sah keine ausreichenden Beweise. Wer versucht hat, ihn zu ermorden, bleibt bis auf Weiteres ungeklärt. Ein enttäuschender Ausgang.
Das harte Urteil gegen den Mörder von Walter Lübcke ist ohne Frage richtig, doch die Bewährungsstrafe für seinen Mitangeklagten ist nicht nur für die Familie des Opfers eine Enttäuschung. Sie zeigt zum wiederholten Male, dass Hass und Hetze, selbst bis zum Mord, keine Konsequenzen haben. Die Frage der Verantwortung geht über das unmittelbare Verfahren hinaus. Welche Rolle spielen politische Akteure, die keine Berührungsängste zu gewaltbereiten Neonazis haben und Medien, die Abwertungen und Mordphantasien eine Plattform bieten? Welche Rolle spielen die Sicherheitsbehörden und was sind die Konsequenzen aus gefährlicher Verharmlosung und groben Fehleinschätzungen? Der Prozess konnte diese Fragen nicht beantworten.