Nach 25 Verhandlungstagen in über fünf Monate ist ein Urteil im Halle-Prozess gefällt worden: Der Angeklagte* wird wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in 66 Fällen zu einer lebenslangen Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Auf freien Fuß wird er nie wieder kommen. Das verkündete die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens am Montag, den 21. Dezember 2020, im Landgericht Magdeburg. „Mehr sieht unser Gesetz hier nicht vor“, ergänzt Mertens.
Das Urteil kommt nicht unerwartet: Denn der Angeklagte war bereits geständig und filmte den Anschlag mit zwei Kameras auf seinem Helm und an seiner Jacke. Am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, fuhr er schwer bewaffnet zu der Synagoge in Halle mit dem Ziel, die anwesenden 52 Menschen zu ermorden. Einen Link zum Livestream der Tat postete er auf dem Imageboard Meguca. Als es ihm nicht gelang, in die Synagoge einzudringen, erschoss er unmittelbar vor der Synagoge er die Passantin Jana L. Nach weiteren missglückten Versuchen sich Zutritt zur Synagoge zu verschaffen, fuhr der Attentäter zum nahegelegenen Imbiss „Kiez-Döner“, erschoss dort Kevin S. und schoss İsmet Tekin an. Auf der Flucht fuhr er noch den Passanten Aftax Ibrahim an und verletzte einen Mann und eine Frau teils schwer, als er versuchte, sich ein weiteres Fluchtfahrzeug zu beschaffen. Nach einem von ihm verursachten Unfall rund 40 Kilometer von Halle entfernt wurde er von der Polizei festgenommen.
In ihrer Begründung sagt Richterin Mertens, der Angeklagte sei fanatisch, ideologisch motiviert, antisemitisch, ausländerfeindlich (d.i. rassistisch) und menschenfeindlich. Er habe sich mit „kruden Verschwörungstheorien“ befasst und sei nur ein Einzeltäter im juristischen Sinne: Denn das Verfahren habe seine Verbindung zu seiner Online-Community von ideologisch Gleichgesinnten gezeigt. Die Behauptung der Verteidigung, der Angeklagte habe nicht gewusst, dass sich zum Zeitpunkt des Attentats Menschen in der Synagoge befanden, lehnt das Gericht ab. Außerdem sei der Attentäter voll schuldfähig und habe mit seinem Anschlag andere zu Nachahmungstaten motivieren wollen. Reue habe er nicht gezeigt. Im Gegenteil: Er habe betont, wieder Taten begehen zu wollen.
Über den Mord an Kevin S., einem 20-jährigen Maler in seiner Mittagspause, der trotz seiner Behinderung und entgegen ärztlicher Einschätzungen dafür gekämpft hatte, ein Leben aufzubauen, sagt Richterin Mertens: „Das Verbrechen war unfassbar grausam, menschenverachtend und von einer Niedertracht, die ihresgleichen sucht.“ Kevin S. habe geschafft, was dem Attentäter nie gelungen sei: Sich von widrigen Lebensumständen zu befreien und sich eine sinnvolle Existenz aufzubauen. Den Mord von Jana L. bezeichnet Mertens als „feigen Anschlag“.
Anders als von der Nebenklage gefordert sieht das Gericht in seinem Urteil die Angriffe auf İsmet Tekin und Aftax Ibrahim nicht als rassistisch motivierten versuchten Mord. In ihrer Begründung adressiert Mertens den Nebenkläger Tekin direkt: „Auch Sie waren im Kugelhagel, Sie waren in Lebensgefahr. Auch Sie sind ein Opfer dieses Anschlags.“ Im juristischen Sinne könnte man allerdings keine Tötungsabsicht annehmen, da man nicht habe nachweisen können, dass der Angeklagte von Tekins Anwesenheit gewusst habe, als er geschossen hat, so Mertens. Auch im Fall Ibrahim habe man nicht nachweisen können, dass es der Angeklagte auf eine Kollision mit seinem Auto angelegt hätte.
Aus den Reihen der Nebenklage gibt es Kritik an der Urteilsbegründung des Gerichts. Die Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk, die drei Mandant*innen aus der Synagoge im Prozess vertritt, beschreibt die Begründung nicht nur als mut- und harmlos, sondern auch hochgradig entpolitisierend gegenüber Belltower.News: „Das Gericht bestätigte die These des isolierten Einzeltäters und ließ alle Aussagen von Sachverständigen zur gesellschaftlichen Verbreitung und Kontinuität von Antisemitismus und Rassismus außer Acht.“ Kritik an der Polizei sei völlig pauschal zurückgewiesen worden. Stattdessen sei das „heldenhafte“ Verhalten der Polizei am Tag des Anschlags gelobt worden. „So machte der Staatsschutzsenat seinem Namen alle Ehre“, so Pietrzyk weiter. Da der Angeklagte in Sicherungsverwahrung gehe, meine das Gericht, die deutsche Mehrheitsgesellschaft könne wieder beruhigt sein. „Das die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht das Ziel rechter Mörder ist, spielt in der Welt des Senats keine Rolle.“
Auch Christina Feist, eine Überlebende des Angriffs auf die Synagoge und eine Nebenklägerin im Prozess, ist von der Urteilsbegründung enttäuscht. „Ich bin unglaublich froh, dass dieser Prozess endlich vorbei ist“, sagt sie Belltower.News. Gleichzeitig sei sie aber wütend. „Denn İsmet Tekin und Aftax Ibrahim sind juristisch nicht vollständig als Betroffene des Anschlags anerkannt worden. Das ist eine unglaubliche Beleidigung und eine offene Wunde, die definitiv bleiben wird.“ Ähnlich wie die Rechtsanwältin Pietrzyk äußert Feist Kritik am Umgang mit den Versäumnissen der Behörden am Tag des Anschlags. „Das sagt sehr viel über diesen Rechtsstaat aus, der anscheinend Staat und Polizei in den Schutz nimmt, sich aber gleichzeitig nicht mit den Betroffenen rassistischer Gewalt solidarisieren kann. Und das ist ein Armutszeugnis.“
Am Ende der Urteilsbegründung kommt es kurz zum Eklat: Bevor der nun Verurteilte aus dem Saal geführt werden kann, wirft er einen Schnellhefter in Richtung der Nebenklage. Vier Sicherheitskräften der Justiz bringen ihn schnell zu Boden und führen ihn in Handschellen ab. Erneut wird klar, dass der Halle-Attentäter keine Reue für seine mörderischen Taten empfindet.
Und somit ist der Halle-Prozess offiziell zu Ende. Ein wichtiger Moment für die Betroffenen des Anschlags. Doch die juristische Aufarbeitung ist längst nicht dasselbe wie eine gesellschaftliche und politische Aufarbeitung. Dem Oberlandesgericht Naumburg ist es im Prozess nicht gelungen, die digitale Radikalisierung und virtuellen Netzwerke des Angeklagten effektiv zu beleuchten. Damit ist auch die Chance vertan, hier wirkungsvolle Gegen- und Präventionsstrategien zu entwickeln oder zumindest zu fordern. Das Phänomen des online-inspirierten Rechtsterrorismus wird uns leider noch lange begleiten.
Was der Prozess allerdings erreichen konnte, ist, den Betroffenen eine Stimme zu geben. Alle 43 Nebenkläger*innen und ihre 21 Anwält*innen kamen im Verfahren ausführlich zu Wort. Und wie der NSU-Prozess zeigte, ist das keine Selbstverständlichkeit. In den Monaten und Jahren nach dem Halle-Prozess würden wir uns als Gesellschaft einen großen Gefallen tun, wenn wir auf die Betroffenen rassistischer, antisemitischer und sexistischer Taten hören würden, ihre Warnungen und Bedürfnisse ernst nehmen würden. Und wir vergessen die Todesopfer nicht. Say their names.
Kevin S.
Jana L.
* Zu Beginn des Prozesses veröffentlichte eine Gruppe von Nebenkläger*innen eine gemeinsame Erklärung, in der sie die Medienvertreter*innen aufgefordert haben, den Namen des Attentäters nicht zu nennen, um ihm eine Plattform zu verweigern. Wir haben diesen Wunsch in diesem Artikel respektiert.