Der Verfassungsschutzbericht liefert jährlich in Rückschau auf das vergangene Jahr Zahlen und Fakten über demokratiegefährdende Entwicklungen. Diesmal allerdings wollten die Zahlen offenbar in einem Bereich nicht zu dem Bild der Gefährdungslage passen, dass der Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) präsentieren wollte: Auf der Pressekonferenz zum zum Verfassungsschutzbericht 2010 in Berlin betonte er, dass er eine große Zunahme linksextremer Straftaten im Jahr 2011 sehe. Dabei weist der – in diesem Jahr reichlich spät veröffentlichte – Verfassungsschutzbericht für 2010 einen deutlichen Rückgang links motivierter Straftaten um 20,8 % aus, bei den Gewalttaten einen Rückgang um 15,3 %.
Bundesinnenminister spiegelt die politische Stimmung
Trotzdem warnte Bundesinnenminister Friedrich, in den ersten fünf Monaten des Jahres 2011 habe es mehr linksextreme Straftaten gegeben als jemals zuvor. Er sieht eine „Gewaltspirale“, weil Linksextreme Rechtsextreme angriffen – eine Darstellung, die Ursachen und Wirkungen verwirbelt. Friedrich setzt derweil Links- mit Rechtsextremismus gleich und erläuterte seine Einstellung: „Links- und Rechtsextreme stehen sich nichts nach in der menschenverachtenden Vorgehensweise und Zielsetzung, sie gefährden die freiheitliche demokratische Grundordnung und die bürgerlichen Freiheiten.“ Diese Darstellung spiegelt deutlich die Stimmung im Land, nach der aktuell Politik gemacht wird. Den Rückgang linksextremer Straftaten 2010 erklärte Friedrich denn auch als „Ausriss nach unten, aber keine erfreuliche Wende.“ Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm gab auf Nachfrage an, dass die linksextremen Straftaten häufig im Zusammenhang mit tagesaktuellen Aktionen ständen, wie 2011 die Räumung der Liebigstraße in Berlin. Er mahnte aber auch: „Das Aktionsniveau folgt der politischen Diskussion.“
Rechtsextremismus: Zahlen sinken
Erfreulich indes: Die Zahl der rechtsextremen Straftaten hat abgenommen (2010: 16.375, 2009: 19.468), und zwar sowohl bei den Gewalttaten (2010: 806, 2009: 959) als auch bei den Propagandadelikten (2010: 11.401, 2009: 13.295) und der Volksverhetzung (2010: 1.433, 2009: 1.997). Der Blick auf die Gewalttaten ist allerdings weniger erfreulich. So zählt der Verfassungsschutz 2010 zwar kein Todesopfer rechtsextremer Gewalt (anders als die Opferberatungsstellen), dafür gibt es einen deutlichen Anstieg bei den Brandanschlägen (2010: 29, 2009: 18); auch wurde 2 Mal das „Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion registriert (2009: 0), die Zahl der „versuchten Tötungsdelikten“ stieg von 5 im Jahr 2009 auf 6 im Jahr 2010.
Auch die Zahl der Rechtsextremen war nach den Erkenntnissen des Verfassungsschutzes im Jahr 2010 rückläufig: Rund 25.000 Personen zählt der Verfassungsschutz zum rechtsextremen Spektrum (2009: 26.600). Im Parteienbereich hat die DVU kräftig Mitglieder verloren (2010: 3000, 2009: 4.500), die NPD aber nicht gewonnen (2010: 6.600, 2009: 6.800). Die NPD hat aktuell 14 Abgeordnete in den Landtagen von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. In Sachsen-Anhalt verpasste sie jüngst den Einzug. Dafür konnten NPD-Mitglieder 330 Kommunalmandate erringen.
Besorgniserregend: Politisierung und zunehmende Gewalt
Als „besonders besorgniserregend“ bezeichnete Bundesinnenminister Friedrich die Zunahme der gewaltbereiten und ideologisch gefestigten Neonazis von 5.000 auf 5.600 Personen. Von diesen seien 1.000 dem Spektrum der „Autonomen Nationalisten“ zuzuordnen (2009: 800). Amüsant dabei, dass es die „Autonomen Nationalisten“ nun auch schon seit rund zehn Jahren gibt, sie aber immer noch (und jedes Jahr aufs Neue) bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes als „neue Erscheinungsform“ präsentiert werden.
Rechtsextreme Skinheadkultur nicht mehr gefragt
Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm ergänzte, dass dafür die subkulturellen Ausprägungen, besonders die rechtsextreme Skinhead-Kultur, beständig Anhänger und Anhägerinnen verlieren. „Diese Art des Auftretens scheint für junge Leute heute nicht mehr interessant zu sein“, so Fromm. Damit ginge aber einher, dass sich gerade Jugendliche heute ausgeprägt politischen Strukturen anschließen. Auch die rechtsextreme Gewalt ist entsprechend stärker zielgerichtet und politisch motiviert und richtet sich immer öfter gegen echte oder vermeintliche politische Gegner, statt aus einer subkulturellen Fremdenfeindlichkeit zu resultieren. „Diese Entwickung macht uns Kummer“, sagt Heinz Fromm und betont, dass dieser militante Teil in Zukunft vom Verfassungsschutz intensiver bearbeitet werden müsse.
Rechtsextremismus: Stärkeres Problem im Osten
Anders als in vorangegangenen Jahren sagte Bundesinnenminister Friedrich deutlich, dass der Rechtsextremismus gerade in seiner gewalttätigen Ausprägung im Osten ein stärkeres Problem sei als im Westen. Verfassungsschutzpräsident Heinz Fromm bestätigte dies, nannte es aber „kein neues Phänomen, sondern seit 2001 bekannt“. Gemeint ist, dass in den östlichen Bundesländer die Anzahl der Gewalttaten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl höher ist. Das heißt: Die meisten Gewalttaten gab es in absoluten Zahlen in Nordrhein-Westfalen (2010: 149) – bezogen auf die Einwohnerzahl führt allerdings Sachsen-Anhalt die Statistik an (2,52 Gewalttaten auf 100.000 Einwohner), gefolgt von Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. NRW liegt auf Platz 9.
Was tun?
Gefragt nach Gegenmaßnahmen verwies Bundesinnenminister Friedrich auf die Bundesprogramme gegen Rechtsextremismus, wie das Programm „Toleranz fördern – Kompetenz stärken“ des Bundesfamilienministeriums oder das Programm „Xenos“ des Bundesarbeitsministeriums. Die weitere Verbreitung im Osten analysierte der CSU-Politiker so: „Nach wie vor haben wir noch nicht geschafft, die demokratische Erziehung Jugendlicher in allen Bereichen nachhaltig zu erreichen. Aber wir sind auf dem Weg der Besserung, wenn wir uns weiter darauf konzentrieren.“
Mehr auf netz-gegen-nazis.de:
| Übersicht: Die wichtigsten Zahlen aus dem Verfassungsschutzbericht 2010
Mehr im Internet:
| Der Verfassungsschutzbericht 2010 zum Download (pdf)
| Verfassungsschutzbericht 2010: Arbeit für Demokratie darf gerade im Osten nicht nachlassen (Pressemitteilung Amadeu Antonio Stiftung)
| Bundesamt für Verfassungsschutz hat politisch rechts motivierte Gewalt nur ansatzweise erfasst
Aussteigerprogramme sind keine Lösung (Pressemitteilung der Mobilen Opferberatung in Sachsen-Anhalt)