Beim NPD-Verbot war Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des neuen Verfassungsschutzberichtes 2008 in Berlin klar: ?Ich verbiete gern rechtsextreme Vereine, aber bei Parteien sind die Hürden, die im Grundgesetz festgeschrieben sind, höher, und das zu Recht?, sagte Schäuble und erläuterte auf Nachfrage, Richter des Verfassungsgerichtes selbst hätten ihm geraten, derzeit gäbe es nicht genug beweiskräftiges Material für ein Verbot der mitgliederstärksten und wichtigsten rechtsextremen Partei. ?Und das dümmste ist, mit einem gescheiterten Verbot Wahlwerbung für die NPD zu machen?, sagte der 67-jährige und benannte die NPD als ?besonders widerlich?.
Wolfgang Schäuble und auch Verfassungsschutz-Chef Heinz Fromm zeigten sich besonders besorgt über die zunehmende Aggressivität und Gewalt in der rechtsextremen Szene. Nicht nur, dass die Zahl rechtsextremer Gewalttaten im Gegensatz zum Vorjahr um 6,3 Prozent zugenommen habe ? vor allem beunruhigt die Staatsschützer die gezielte gewalttätigen Angriffe der ?Freien Kräfte? der Neonazi-Szene, besonders der ?Autonomen Nationalisten?, wie sie sich bei der Großdemonstration in Hamburg 2008 oder 2009 beim Übergriff auf einen Gewerkschaftsbus nach einer rechtsextremen Demonstration in Dresden oder dem Angriff auf eine DGB-Demonstration am 1. Mai in Dortmund gezeigt habe.
Dies und die Tatsache, dass es zum ersten Mal seit 2004 wieder in der offiziellen Statistik zwei Todesopfer rechtsextremer Gewalt gäbe, empfindet Schäuble als gravierend und er betonte: ?Der Umgang mit rechtsextremer Gewalt wird ein Schwerpunkt der nächsten Innenministerkonferenz in Bremen?. Die Zunahme der Gewalttaten, so beeilte sic h Fromm zu sagen, sei aber ?keine neue Dimension?, wenn auch ?auf hohem Niveau?.
An einem anderen Punkt zeigten sich Schäuble und Fromm weniger souverän: Zwar betonten sie die Gefahr rechtsextremer Agitation im Internet ? und dass sie ihr Maßnahmen entgegensetzen wollten. Allerdings fiel auf Nachfrage doch wieder nur das Stichwort der Selbstkontrolle etwa von Social Networks, deren Betreiber sensibilisiert werden sollten.
Die Zahlen des Verfassungsschutzes zeigen, dass es 2008 nicht nur mehr rechtsextreme Straftaten gab, was auch einer neuen Zählung geschuldet ist, sondern auch mehr rechtsextreme Gewalttaten. Die Zahl der Menschen in der rechtsextremen Szene nahm ab, die Zahl der besonders gefestigten und gewaltbereiten Neonazis dagegen zu. Einzelheiten dazu hier:
Gewalt von Rechtsextremen
– Tötungsdelikte: 2 (2007: 0) (mehr dazu)
– Versuchte Tötungsdelikte: 4 (2007: 1)
– Körperverletzungen: 893 (2007: 845)
– Brandstiftungen: 29 (2007: 24)
– Landfriedensbruch: 46 (2007: 37)
– Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Luft-, Schiffs- und Straßenverkehr: 4 (2007: 7)
– Freiheitsberaubung: 1 (2007: 0)
– Raub: 10 (2007: 11)
– Erpressung: 47 (2007: 50)
– Widerstandsdelikte: 47 (2007: 50)
Gewalttaten gesamt: 1.045 (2007: 980)
Gewalttaten nach Bundesländern: Die meisten gab es in Nordrhein-Westfalen (165), Sachsen (126) und Niedersachsen (111), die wenigsten in Hessen (25), Bremen (10) und im Saarland (8).
Weitere rechtsextrem motivierte Straftaten:
– Sachbeschädigung: 1.197 (2007: 821)
– Nötigung / Bedrohung: 144 (2007: 146)
– Propagandadelikte: 14.262 (2007: 11.935)
– Störung der Totenruhe: 32 (2007: 18)
– Andere Straftaten, bes. Volksverhetzung: 3.217
(2007: 3.276)
Sonstige Strataten gesamt: 18.852 (2007: 16.196)
Rechtsextremes „Personenpotenzial“:
– insgesamt: 30.000 Menschen im rechtsextremen Spektrum – 2007: 31.000
– NPD: 7.000 Mitglieder (2007: 7.200)
– JN: 400 Mitglieder (wie im Vorjahr)
– DVU: 6.000 Mitglieder (2007: 7.000)
– Neonazis: 4.800 Menschen (2007: 4.400)
– gewaltbereite Rechtsextreme: 9.500 (2007: 10.000)
Wahlen
Bei den Landtagswahlen in Hessen, Niedersachsen und Bayern war die NPD erfolglos. Lediglich in Sachsen konnte sie bei der Kommunalwahl mit 5,1 Prozent der Stimmen in alle 10 Kreistage einziehen. Die DVU war bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg erfolglos.
Demonstrationen
Neonazistische Demonstrationen: 80 (2007: 66)
NPD-Demonstrationen: 75 (2007: 70)
Großdemonstrationen:
– „Trauermarsch“ der „Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland“ (JLO) in Dresden mit 3.800 Teilnehmern
– „Fest der Völker“ in Altenburg (Thüringen) mit 1.100 Teilnehmern, von NPD und „Freien Kräften“
– Demonstration zum 1. Mai in Hamburg, 1.500 Teilnehmer
– Demonstration zum „Antikriegstag“ in Dortmund am 06. September, 1.200 Teilnehmer
Musik
– Konzerte: 127 (2007: 138)
– Liederabende: 30 (2007: 23)
– Auftritte rechtsextremer Musiker bei sonstigen Veranstaltungen: 50 (2007: 64)
– Musikgruppen: 146 (wie im Vorjahr)
– Liedermacher: 30 (2007: 26)
– Versandhändler und Vertriebe: 78 (2007: 83)
Rechtsextreme Organisationen:
Rechtsextreme Organisationen: 156 (2007: 180)
Davon Neonazi-Gruppierungen: 87 (2007: 107)
Verbotene Organisationen 2008:
– „Verein zur Rehabilitierung der wegen des Bestreitens des Holocausts Verfolgten“ (VRBHV) Vereinszweck gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet, Zuwiderlaufen gegen Strafgesetze
– „Internationales Studienwerk – Collegium humanum“ (CH) mit „Bauernhilfe e.V.“
Vereinszweck gegen die verfassungsmäßige Ordnung gerichtet, Zuwiderlaufen gegen Strafgesetze
Rechtsextremismus im Internet
– Websites: 1.000 (wie im Vorjahr)
– dazu anlassbezogene Sonderseiten zu Demonstrationen, Kampagnen, Veranstaltungen
– besonders beliebt: Rechtsextreme Diskussionsforen (Informationsaustausch, Veranstaltungen ankündigen und auswerten)
– Rechtsextrem versuchen, über Social-Network-Seiten ihre virtuellen Freundeskreise über die Szene hinaus auszuweiten und über Videoplattformen ihre Ideologie zu verbreiten und für ihre Veranstaltungen zu werben
– die anonyme Verbreitung rechtsextremer Propaganda im Internet ist weitgehend risikolos und besonders gefährlich, weil sie Jugendliche gut anspricht.
Organisations- und Aktionsformen
Kameradschaftsszene
– besonders beliebt sind weiter Kameradschaften, also lokale Zusammenschlüsse mehrerer Personen unter Vermeidung fester Vereinsstrukturen.
– Durch das Vernetzen von Kameradschaften wird die Aktions- und Mobilisierungsfähigkeit erhöht.
– Kameradschaften machen Öffentlichkeitsarbeit, z.b. Flugblatt-Aktionen, um ihre Ideologie in die Öffentlichkeit zu tragen.
– Um ihre gesellschaftliche Isolation zu umgehen, setzen Neonazis auf Themen von allgemeinem Interesse, oft ohne offensichtlichen Bezug zur Neonazi-Ideologie, z.B. „soziale Gerechtigkeit“, dafür gibt es weniger offensive NS-Bezüge.
– Dafür gibt es Bezüge zur NS-Propaganda mit Parolen wie „Kriegstreiberei der internationalen Hochfinanz“.
– Die „Autonomen Nationalisten“ machen jetzt etwa zehn Prozent der gesamten Neonazi-Szene aus und treten besonders gewalttätig auf – gerade im Umgang mit politischen Gegnern. Sie beeinflussen die Szene durch ihr Erscheinungsbild und sorgen für gestiegene Gewaltbereitschaft bei rechtsextremen Demonstrationen.
Parteien
– Die NPD argumentiert laut Verfassungschutz mit völkischem Nationalismus, Rassismus, „Volksgemeinschaft“, Streben nach „Systemüberwindung“, Wohlwollen gegenüber dem Nationalsozialismus, Kritik an „Umerziehung“ durch die Siegermächte, Antisemitismus.
– Zentrale Taktiken: „Vier-Säulen-Strategie“ („Kampf“ um Straße, Köpfe, Parlament und „organisierten Willen“), „Wortergreifungs-Strategie“, rigide Agitation, „Soziale Frage“ als Schwerpunktthema.
– Die DVU versucht es mit Rassismus, Antisemitismus, Relativierung des Holocaust, revisionistischer Kritik an „einseitiger“ Vergangenheitsbewältigung.
| Tweet von der Pressekonferenz zum Verfassungsschutzbericht 2008
| Politisch motivierte Kriminalität 2008
Der Verfassungsschutzbericht 2008 zum Download:
| bmi.bund.de