Am 15. Februar kam es im rheinland-pfälzischen Bingen offenbar zu einem lebensgefährlichen Angriff aus rechtsextremen Motiven im Haus einer Studentenverbindung. Nachdem ein 23-jähriger Mann rechtsextreme Musik abspielte, beschwerte sich ein 20-Jähriger. Dabei kam es zunächst zu einer „verbalen Auseinandersetzung“ heißt es von den Ermittlungsbehörden. „Im weiteren Verlauf des Geschehens soll der Beschuldigte den Geschädigten mit einem Messer angriffen und ihm Stichverletzungen im Bereich des Oberkörpers zugefügt haben“, heiß es weiter in einer Mitteilung. Der 20-Jährige wurde offenbar schwer verletzt. Das Opfer ist laut Angaben der Behörden Mitglied der Studentenverbindung, der mutmaßliche Täter war zu Besuch aus Hessen und übernachtete in einer anderen Verbindung in Bingen. Die genauen Hintergründe der Tat seien aktuell noch Gegenstand von Ermittlungen.
Dass die Tat jetzt öffentlich geworden ist, hat nicht etwa mit einer Pressemitteilung der Behörden zu tun, sondern ist einer Recherche der Frankfurter Rundschau zu verdanken. Nach einer Anfrage der Linken-Abgeordneten Petra Pau nannte die Bundesregierung die aktuellen Zahlen für rechtsextreme Straftaten im Januar und Februar 2023. Im Januar wurden 998 Delikte registriert, im Februar 1.026. Fast 100 davon waren Gewaltdelikte. Zum ersten Mal seit längerer Zeit nannte die Bundesregierung auch ein versuchtes Tötungsdelikt – im gesamten Jahr 2022 wurde keines registriert.
Um welchen Vorfall es sich dabei handelte, blieb allerdings unklar. Weder Opferberatungsstellen, noch Institutionen wie die Amadeu Antonio Stiftung, konnten den Fall zuordnen. Die Bundesregierung nannte nicht einmal das Bundesland, in dem die Tat begangen wird, „aufgrund der Vorläufigkeit der Angaben und der noch nicht ausermittelten Sachverhalte“.
Zunächst wurde spekuliert, dass es sich um den mutmaßlichen Brandanschlag in Berlin Pankow am 25. Januar gehandelt haben könnte, bei dem eine 43-Jährige Frau aus Syrien ums Leben kam. Doch das Landeskriminalamt bestätigte der FR, dass der Fall nicht als rechtsextrem motiviertes Delikt gemeldet wurde, da Polizei und Staatsanwaltschaft aktuell keine Hinweise auf ein rassistisches Motiv erkennen.
Erst auf Nachfrage wurde klar, dass es sich bei dem versuchten Tötungsdelikt um einen Fall in Rheinland-Pfalz handelte. Der Frankfurter Rundschau sagte ein Pressesprecher des Polizeipräsidiums Mainz auf die Frage, warum nach der Tat keine Pressemeldung veröffentlicht wurde: „Wir melden nicht alle Fälle“. Besonders dann, „wenn die Sachverhaltsaufnahme noch nicht abgeschlossen“ oder „ein Delikt noch nicht klar einzuordnen“ sei.
Immer wieder kommt es zu ähnlichen Fällen. Polizeidienststellen melden rechtsextreme Delikte entweder spät oder gar nicht. Im August 2022 versuchte beispielsweise ein 32-jähriger Mann einen 33-jährigen Eritreer zu ermorden. Erst nach einer Recherche von „Allgäu Rechtsaußen“ bestätigte die zuständige Staatsanwaltschaft Memmingen den Fall. Am Morgen des 28. August verletzte der mutmaßliche Täter den 33-Jährigen mehrfach und würgte ihn schließlich bis zur Bewusstlosigkeit. Erst Ende Dezember 2022 wurde ein Haftbefehl gegen den dringend Tatverdächtigen vollstreckt.
Auch Delikte aus der „Reichsbürger“-Szene werden oft erst nach öffentlichem Druck als rechtsextreme Taten gezählt. Aktuell läuft etwa ein Prozess gegen Ingo K. aus Boxberg-Bobstädt in Baden-Württemberg. Nachdem ein Sondereinsatzkommando der Polizei anrücken musste, um Waffen sicherzustellen, schoss K. um sich. Er steht unter anderem wegen Mordversuch an 14 Polizist*innen vor Gericht. Das Bundeskriminalamt verzeichnet die Tat nicht als rechtsextrem, sondern als politisch motivierte Kriminalität, die „nicht zuzuordnen“ sei.
Die Zahlen aus der Anfrage von Petra Pau machen erneut deutlich: Rechtsextreme Gewalt ist ein alltägliches Problem in Deutschland. Doch nur die wenigsten Fälle kommen überhaupt an die Öffentlichkeit. Wöchentlich versucht Belltower.News in einer Gewaltchronik diese und ähnliche Fälle zu dokumentieren. Doch auch wir stoßen regelmäßig an unsere Grenzen. Denn nur die wenigsten Taten schaffen es überhaupt in die Lokalnachrichten. Die Chronik kann lediglich einen Eindruck der alltäglichen Gewalt vermitteln.
Heike Kleffner, Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) vermutet dahinter eine Strategie der Behörden. Der FR sagte sie: „Offensichtlich soll hier bewusst das alltägliche Ausmaß rechter und rassistischer Gewalt verschleiert werden.“ Eine Taktik, die schon während der jahrelangen Mordserie des NSU angewandt wurde. Auch damals versuchten die Behörden mit allen Mitteln einen rechtsextremen Hintergrund auszuschließen. Kleffner sieht in den aktuellen Bemühungen einen „Rückfall in die Verschleierungs- und Verharmlosungspolitik“.
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