
Die Strategie der subtilen Wahrnehmungslenkung beschränkt sich nicht nur auf große Gesten und mediale Inszenierung. Ein wesentlicher Bestandteil des digitalen Wahlkampfes der AfD liegt in der Verwendung neuer Formate. Dazu gehören etwa Livestreams, um die Präsenz auf TikTok und X weiter auszubauen. In den Streams haben die prägnantesten Aussagen eine Chance, viral zu gehen und ein deutlich breiteres Publikum zu erreichen.
Livestreams – Mittel viraler Desinformation
Auf X birgt das Live-Interview-Format virales Potenzial. Der Interview-Stream mit Alice Weidel und Elon Musk von Anfang Januar 2025 wurde in den ersten 24 Stunden über 45 Millionen Mal angesehen. Musks Einmischung in den deutschen Bundestagswahlkampf wird nur allzu dankbar entgegengenommen, in der Hoffnung, etwas von seinem Erfolg färbt ab. Ähnlich wie bei früheren Livestreams, zum Beispiel das Interview von Tucker Carlson und Wladimir Putin oder das Gespräch zwischen Donald Trump und Elon Musk geht es allerdings nicht nur um Reichweite, sondern auch um die Verbreitung von Desinformationen, Populismus und Revisionismus.
Auf Weidels irreführende Aussagen über den Nationalsozialismus und Hitler reagierte der Tech-Milliardär mit dumpfer Zustimmung und libertärer Rhetorik. Falschbehauptungen bleiben unwidersprochen stehen, darunter Lügen über Migration, Deindustrialisierung durch Atomausstieg und eklatanter Geschichtsrevisionismus.
Seit der Übernahme von X durch Musk hat die Plattform Moderation oder Faktenchecks größtenteils aufgegeben oder ausgelagert. Die fehlende Kontrolle begünstigt Desinformation: Während kurze Posts grundsätzlich schneller von Faktenchecker*innen zu überprüfen sind, erfordern lange Formate erheblich mehr Zeit und Ressourcen, deswegen bleiben vor allem lange Interviews oft ungeprüft – ein fruchtbarer Nährboden für Manipulation.
Sockenpuppen und Fan-Armeen
Im Vergleich zu vergangenen Wahlen sind für diese Bundestagswahl tatsächlich deutlich mehr Parteien in den Wahlkampf auch auf TikTok gezogen. Was die AfD auszeichnet und zu einer der sichtbarsten Parteien auf der Plattform macht, ist die schiere Menge an Inhalten, die von mutmaßlichen Sockenpuppen-Accounts gepostet werden, die nicht offiziell von der Partei betrieben werden, sondern von Unterstützer*innen. Die große Menge an Inhalten macht es wahrscheinlicher, dass Videos anderen Nutzer*innen angezeigt werden
Viele der Videos sind offensichtlich schnell produziert: ein blaues Herz hier, ein singender Schlumpf dort oder auch mal ein muskulöser Adler in Deutschlandfarben. Gerne werden hier auch KI-generierte Bilder und Songs verwendet, dabei wird KI bisher größtenteils nicht wie befürchtet zur Täuschung oder Manipulation verwendet, sondern schlicht zur schnellen und kostengünstigen Contentproduktion.
Schlagerwahlsongs, Ragebait und rassistischer Merch
Aktuell verbreiten sich häufig Videos, die vermeintliche Demonstrationen für die AfD zeigen, unterlegt mit dem Schlachtruf von Dynamo Dresden „Ost, Ost, Ostdeutschland“. Dabei handelt es sich bei den Protesten um dekontextualisiertes Videomaterial, das meistens andere Demonstrationen oder Menschenmassen zeigt. Die neue Audiospur und verzerrende Beschreibungstexte suggerieren, es gäbe ein größeres Protestpotential und Masse an Anhänger*innen, wie auch der Correctiv Faktencheck über einen ähnlichen Vorfall bestätigt.
In den vergangenen Wochen sind vermehrt Videos mit KI-generierten Inhalten aufgetaucht, insbesondere Deepfakes von Spitzenpolitiker*innen, in denen sie durch Künstliche Intelligenz vermeintlich Dinge tun und sagen, die frei erfunden sind. In einem dieser Videos werden Grünen-Chef Robert Habeck und Gesundheitsminister Karl Lauterbach bei der Agentur für Arbeit und auf der Anklagebank gezeigt. Das Video, verbreitet von einem offiziellen AfD-Account, präsentiert ein Zerrbild Deutschlands, indem Frauen permanent von Nicht-Weißen bedroht sind und Kriminalität zum Alltag gehört. Ein weiteres Video, das von der AfD auf TikTok geteilt wurde, zeigt CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz, wie er die angebliche „Wahrheit“ über die CDU erzählt. Auch dabei handelt es sich um ein sogenanntes Deepfake. So lässt die AfD Brandenburg den KI-Merz unter anderem sagen: „Das dritte Geschlecht verdanken sie uns.“ Die Videos sind mittlerweile auf TikTok gelöscht, finden aber auf anderen Plattformen noch Verbreitung.
Außerdem setzt die AfD weiterhin auf provokative Aktionen, um über die Plattformen hinaus Aufmerksamkeit zu generieren. „Ragebaiting“ soll Reichweite schaffen, also die gezielte Provokation von User*innen, um empörte Reaktionen zu generieren.
Doch die AfD setzt nicht nur auf gezielte Provokationen, sondern auch auf die bewährte Strategie, Zweifel an der Legitimität des Wahlprozesses zu säen, um das Vertrauen in die Demokratie zu untergraben. Besonders auffällig sind dabei einige Narrative, die bereits in der Vergangenheit verwendet wurden, die nun mit neuen Beispielen angereichert und verschärft platziert werden.
Angst vor Wahlannullierung durch Einwirken der EU?

Plattformübergreifend verbreiten Antidemokrati*innen Desinformationen über die vermeintlich geplante Annullierung der Bundestagswahl durch die EU, um die deutsche Souveränität zu untergraben. Es kursieren irreführende Behauptungen, die beispielsweise suggerieren, der ehemalige EU-Kommissar Thierry Breton habe sich für eine Annullierung der Wahl in Deutschland ausgesprochen.
Dabei handelt es sich um Dekontextualisierungen von Aussagen, wie auch in einem zweckentfremdeten Statement von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Der Bundespräsident hatte im Dezember eine mahnende Botschaft veröffentlicht, einen transparenten und fairen Wahlprozess beschworen und gleichzeitig die Gefahr für die Demokratie durch Fremdeinwirkung wie am Beispiel Rumäniens skizziert. Dieses Statement wird bewusst von Akteur*innen im Netz entfremdet, die behaupten, Steinmeier würde die Wahl in Deutschland annullieren wollen. Der eigentliche Kontext – die Warnung vor gezielten Manipulationsversuchen aus dem Ausland – wird vollständig ausgeblendet. Das Ziel: die Konstruktion eines äußeren Feindbildes, mit der EU als „Einmischer“ in deutsche Angelegenheiten. Eine Verschwörungserzählung, die eine Fremdbestimmung Deutschlands durch überstaatliche Institutionen konstruiert. Dabei wird die Realität bewusst ignoriert: Entscheidungen über Neuwahlen obliegen ausschließlich deutschen Institutionen, die EU hat keinerlei Einfluss auf nationale Wahlprozesse.
Vermeintlich gescheiterte Migrationspolitik
Ein Dauerbrenner ist auch die Erzählung, Innenstädte seien unsicher geworden. Die Schuld dafür – genau wie für aussterbende und weniger attraktive Viertel – wird Migrant*innen zugeschrieben. Der vermeintliche „Zerfall“ der Fußgängerzone wird dabei nicht am Rückgang des Einzelhandels oder dem Verschwinden sozialer Treffpunkte gemessen, sondern häufig daran, wie viele migrantische Menschen einschlägigen Influencer*innen oder Politiker*innen in den Innenstädten an einem beliebigen Tag begegnen. Die bloße Anwesenheit wird dabei bewusst mit Bedrohung und Unsicherheit in Verbindung gebracht. Diese verzerrte Wahrnehmung wird genutzt, um Angst zu schüren und das Bild eines bedrohten städtischen Raums zu erzeugen.
Gleichzeitig kursieren Memes, in denen die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen während der Weihnachtszeit mit den deutschen Außengrenzen verglichen werden. Betonpoller werden angeblich blühenden Landschaften in Ländern mit noch restriktiverer Einwanderungspolitik gegenüber gestellt, um ein verzerrendes Bild zu kreieren. Die Message ist deutlich, die Innenstädte seien zu Orten der Unfreiheit geworden, während die Außengrenzen weiterhin für alle offen seien.
Prinzip Hoffnung
Dabei gibt es nicht nur Negatives zu berichten: Demokratische Politiker*innen und die Zivilgesellschaft nutzen mittlerweile unterschiedlichste Formate, von Twitch über YouTube bis hin zu TikTok, um Präsenz im digitalen Raum zu zeigen. Bundeskanzler Olaf Scholz spricht auf YouTube, Robert Habeck und Linken-Chefin Heidi Reichinnek sind auf Twitch im Livestream.
Damit diese Räume weiterhin für alle Demokrati*innen offen bleiben, ist es umso wichtiger, den ethischen Rahmen, die Hausregeln und Community Guidelines nicht aufzuheben und sich auch weiterhin gegen Desinformation und Diskriminierung stark zu machen. Die letzten Entwicklungen bei den Techgiganten zeigen, wie fragil der Konsens hierüber ist. Es wird sich zeigen, wie stabil und wehrhaft der gerade erst eingeführte Digital Service Act (DSA) auf EU-Ebene ist, wenn die USA unter Donald Trump den Druck gegen die europäische Regulierung erhöhen.