Eines fiel auf der Demo gegen das Infektionsschutzgesetz und die „Bundes-Notbremse“ am 21. April 2021 in Berlin schnell auf: Im Gegensatz zu bisherigen Demos aus dem „Querdenken“-Umfeld waren weniger Rechtsextreme zu sehen, nur wenige Reichsfahnen wehten über der Menge. Aber der Verlauf der Demo zeigt: Die vorgeblich bürgerlichen Teilnehmer*innen sind radikalisiert und gehen in wahnhaftem Verschwörungsdenken auf.
Nach Polizeiangaben versammelten sich am Mittwoch etwa 8.000 Menschen in Sichtweite des Brandenburger Tors auf der Straße des 17. Juni. „Querdenken“ und andere Gruppierungen aus dem rechtsextremen, antiemanzipatorischem und verschwörungsideologischen Spektrum hatten mobilisiert, um gegen das Infektionsschutzgesetz und die „Bundes-Notbremse“ zu demonstrieren. Mehrere Demonstrationen wurden am Vortag noch verboten. Offenbar reisten aber viele Menschen trotzdem aus dem gesamten Bundesgebiet nach Berlin.
Die Demonstration in der Nähe der Siegessäule verlief zunächst vor allem planlos. Die Menge bewegte sich in unterschiedlichen Richtungen auf der Straße durch den Tiergarten auf und ab. Vor allem am Vormittag hatte die Veranstaltung den Charakter eines esoterisch angehauchten Verschwörungs-Volksfestes. Gruppen tanzten und sangen gegen das Gesetz, dass zeitgleich im Bundestag debattiert wurde. Bemerkenswert war dabei vor allem die Abwesenheit gewaltbereiter und klar erkennbarer Rechtsextremen. An allen bisherigen Demonstrationen der „Anti-Corona-Bewegung“ in Berlin nahmen immer wieder bekannte Holocaust-Leugner*innen, NPD-Kader, Mitglieder der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ und anderer vergleichbarer Gruppen teil. Erst am 20. März 2021 hatten Neonazis und Hooligans sich an einer Demonstration an gleicher Stelle versucht, waren damit allerdings unter anderem mangels Teilnehmenden gescheitert. Diesmal waren nur vereinzelt Rechtsextreme zu sehen, unter anderem offenbar einige Hooligangruppen. Der große Rest der Demo erschien auf den ersten Blick bemerkenswert bürgerlich. Doch dieser Eindruck sollte sich sehr schnell ändern.
Relativ zügig beendete die Polizei am frühen Nachmittag eine Kundgebung am Brandenburger Tor. Währenddessen sprechen mehrere Aktivisten von einem LKW auf der Straße des 17. Juni, wo sich eine große Menschenmenge sammelt. Der erste Redner beschwört eine friedliche Demonstrationen, er bittet die Anwesenden die Polizist*innen nicht anzuschreien oder aggressiv zu werden, da doch schließlich alle nur Menschen wären. Er, wie viele der Teilnehmenden auch, versuchte die Beamt*innen für die „Bewegung“ zu rekrutieren. Die Polizist*innen sollten remonstrieren, sich also ihren Anweisungen widersetzen. Auch ansonsten war immer wieder zu sehen, dass sich Teilnehmende bei den Polizist*innen bedankten oder sie ansprachen.
Doch die freundliche Stimmung schwang spätestens mit dem nächsten Redner um. Heinrich Fiechtner, ein aus der AfD ausgeschlossener Landtagsabgeordneter aus Baden-Württemberg, widersprach seinem Vorredner. Die Polizei plane die Kundgebung aufzulösen, dass sei eine „Kriegserklärung“. Für den Fall das es passieren sollte, kündigte er „Widerstand“ an. Eine Ankündigung, die nur wenige Minuten später umgesetzt wird. Noch während Karl Hilz, ein vom Verfassungsschutz beobachteter Ex-Polizist aus München, per Handy zugeschaltet wird und die umstehenden Polizist*innen wieder zu Remonstration aufruft, startet eine Durchsage der Polizei: Auch diese Versammlung soll aufgelöst werden. Fiechtner greift sich das Mikrofon und will eine „militärische Aktion“ durchführen, alle Anwesenden sollen sofort zum Brandenburger Tor stürmen.
Spätestens jetzt kippt die Stimmung vollständig. Die anwesenden älteren Herren in Camp-David-Jacken und Damen, die gerade noch ihre mitgebrachten Lunch-Pakete ausgepackt hatten, werden zum wütenden Mob und stürmen tatsächlich zurück zum Brandenburger Tor. Mit der Freundlichkeit gegenüber den Polizist*innen ist es vorbei. Während die Anwesenden langsam geräumt werden, kommt es immer wieder zu körperlichen Übergriffen aus der Menge gegenüber den Beamt*innen. Die Menge verteilt sich immer weiter in den Tiergarten, mehrmals werden Polizist*innen eingekesselt, bedrängt und mit Gegenständen beworfen. Immer wieder werden Demonstrierende festgenommen, die Polizei setzt Pfefferspray ein.
Die Eskalation und das Verhalten der Teilnehmer*innen zeigt vor allem eins: Die „Bewegung“ ist vollständig radikalisiert und hängt offenbar einem wahnhaften Weltbild an. Darüber kann das bürgerliche Erscheinungsbild nicht mehr hinwegtäuschen. Die Anwesenden fühlen sich als Opfer der Regierung und als Opfer der Polizei. Das nimmt bizarre Züge an. So erzählt eine Redner, dass er im vergangenen Jahr so viel geweint habe, wie noch sie in seinem Leben zuvor, weitaus mehr, als zum Zeitpunkt, als sein Vater gestorben sei. Durch ein Megaphon schreit ein Mann, dass die Polizei sich verhalte wie die SS während des Nationalsozialismus. Währenddessen sagt eine Frau immer wieder: „Wir sind doch ganz normal“.