Interview: Johannes Radke
Oma und Opa erzählen manchmal, das Dritte Reich habe auch gute Seiten gehabt ? und da sind sie sich mit Neonazis einig. Eine breite Debatte zum Thema kam 2007 in Gang, als eine mehrdeutige Äußerung der ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Eva Herman von einigen als Bejahung der NS-Familienpolitik gedeutet wurde. Frau Herman bestreitet, dies so gemeint zu haben. Prof. Wolfgang Wippermann ist Historiker an der Freien Universität Berlin ? wir fragten ihn, wo das Beschönigen des Nationalsozialismus beginnt.
Herr Professor Wippermann, hat Hitler denn nun die Autobahn gebaut?
Ja und nein. Nein, weil Hitler nicht der erste Politiker war, der eine Autobahn bauen ließ. Es gab in Deutschland und anderen Ländern schon lange vorher solche Schnellstraßen. Zudem hat ja nicht Hitler persönlich die Autobahnen gebaut. Trotzdem hält sich der Mythos seit 1945, nicht nur bei Stammtischgesprächen. Menschen, die zu jener Zeit gelebt haben, ist es einfach ein Bedürfnis zu sagen: ?Es kann nicht alles schlecht gewesen sein.? Viele haben damals an das System geglaubt, gekämpft, sind zum Teil dafür gestorben. Deshalb muss es quasi auch etwas Positives gegeben haben, für das man stand.
Welche Legenden zum Nationalsozialismus halten sich bis heute am hartnäckigsten?
Schöngeredet wird vor allem Hitlers Familien- und Sozialpolitik. Völlig vergessen wird dabei, dass diese eindeutig rassistisch motiviert war, dass nur ?rassisch reine? und ?erbgesunde? Familien in den Genuss von Sozialleistungen kamen. Außerdem wird ausgeblendet,dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik im Nationalsozialismus untrennbar mit Kriegsvorbereitung unde Vernichtungspolitik verbunden war.
Was ist, wenn Leute sagen, Frauen seien damals wenigstens noch gewürdigt worden?
Das Gegenteil ist richtig. Frauen wurden im Dritten Reich erniedrigt und auf ihre biologische Funktion als ?Muttertier? reduziert. Gezielt wurden sie aus höher qualifizierten Berufen verdrängt, später mussten sie in Rüstungsbetrieben für den ?Endsieg? schuften. Und nach Kriegsende haben sie beispielsweise als Trümmerfrauen die Zeche gezahlt.
Wieso ist die Äußerung von Frau Herman von einigen als Lob der NS-Familienpolitik aufgefasst worden? Sie ist ja nicht als Stammtischfrau bekannt.
Stammtisch-Frau trifft es aber sehr gut. Viele, die ihre Äußerung als Lob der Familienpolitik Hitlers interpretierten, sahen sich in dem bestätigt, was sie selber glauben, aber nicht auszusprechen wagen.
In deren Augen hat sich Herman zur Sprecherin dieser ?schweigenden Mehrheit? gemacht und sehr viele Menschen haben dann ja auch positiv auf ihre Äußerung reagiert. Wieso haben Sie sich zu der Debatte ausgerechnet in der „BILD“ geäußert? Das Blatt arbeitet ja selbst kräftig an einer Geschichtsverklärung mit, indem es immer wieder sehr boulevardeske Artikel beispielsweise über Hitler druckt.
Die Redaktion hat mich angerufen, um in aller Kürze auf einer Seite über die wichtigsten Legenden zum Nationalsozialismus aufzuklären. Grundsätzlich habe ich viele Vorbehalte gegenüber dieser Zeitung, aber in diesem Fall war es sehr gut und vor allem wirkungsvoll, diese Seite zu veröffentlichen. Ich habe 30 Bücher über Faschismus geschrieben, aber diese eine Seite in der Bild-Zeitung war wirkungsvoller als alle Bücher zusammen. Es kamen dann bergeweise empörte bis aggressive Leserbriefe ? das hat gezeigt, wie wütend es die Menschen machte, dass plötzlich in ?ihrem? Blatt mal die Wahrheit gesagt wird. Dabei hatte ich nur zeigen wollen, was man über den Nationalsozialismus einfach nicht sagen sollte.
Und das wäre?
Ganz einfach: die Unwahrheit. Man darf die Verbrechen einfach nicht relativieren oder gar in Zweifel ziehen. Es geht hier um die Verbrechen und Begleiterscheinungen einer beispiellosen Diktatur, in der wirklich nichts, außer vielleicht dem Wetter, schön oder gut war.
Warum ist es so schlimm, das ein bisschen anders zu sehen?
Wenn so etwas öffentlich und unwidersprochen geäußert wird, fühlen sich viele Menschen in ihrer Meinung bestätigt. Mit dem Schönreden des Dritten Reiches ist aber immer und untrennbar die Relativierung der NS-Verbrechen verbunden.
Weshalb ignorieren so viele Menschen die historischen Fakten?
Das wird von Generation zu Generation weitergegeben. Früher dachte man, mit dem Aussterben der NS-Veteranen werde auch das falsche Bild der Nazi-Diktatur verschwinden. Leider ist das Gegenteil der Fall. Auch heutige Jugendliche kennen die Autobahn-Legende. Ein großes Problem ist auch, dass sehr viele Fernsehberichte zum Dritten Reich beschönigend sind, weil sie fast ausschließlich Propaganda-
Aufnahmen benutzen. Andere Bilder existieren ja kaum. Man sieht bei Guido Knopp und anderen immer
nur den schönen Schein jener Zeit. Die wenigen Schock-Bilder von Konzentrationslagern sind inzwischen mehr oder weniger wirkungslos, weil sie schon jeder kennt.
Passiert das Verbreiten von NS-Legenden denn immer bewusst?
Das Hauptthema des heutigen Faschismus ist das Schönreden des früheren Faschismus. Ich glaube daher, dass das kein unkontrolliertes Dahinreden ist, sondern ein ganz bewusstes.
Auch bei einem 15-Jährigen?
Ja, auch der weiß, wovon er redet, wenn er diese Geschichten von seinen Angehörigen gehört hat. Aus meinen Erfahrungen kann ich sagen, dass man das nicht unterschätzen sollte.
In der Eva-Herman-Debatte fiel auch der Begriff ?gleichgeschaltete Presse?, ein
Wort, das aus der NS-Forschung kommt ?
? was von mir auch kritisiert wurde. Eine gleichgeschaltete Presse gibt es nur in Diktaturen. Wir leben aber in einer Demokratie und haben Pressefreiheit. Spricht man heute von ?gleichgeschalteter Presse?, wiederholt man damit praktisch die Angriffe von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels gegen die ?Systempresse?, der man nicht glauben solle.
Wie sollte ein verantwortungsvoller Umgang mit der NS-Vergangenheit aussehen?
Vor allem sollte man, beispielsweise im Schulunterricht, nicht nur historisch über den Nationalsozialismus reden, sondern das damalige Geschehen mit der Gegenwart verbinden. Und man sollte über Hitler-Deutschland hinausschauen auf die faschistischen Bewegungen weltweit. Man muss das allgemeine Phänomen verstehen. Der deutsche Nationalsozialismus mag Geschichte sein, das Problem des Faschismus aber besteht bis heute ? und zwar nicht nur in Deutschland.
Dieser Text erschien zuerst im „Buch gegen Nazis„. Mehr zum Thema und Inhalt finden Sie hier:
| Das Buch gegen Nazis
Mit freundlicher Genehmigung.