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Warum sollen wir dein Buch lesen? Antisemitismus unter ,,muslimischen Jugendlichen“

(Quelle: Unsplash)

Die Interviews führt das Team der ju:an-Praxisstelle antisemitismus- und rassismuskritische Jugendarbeit.

ju:an: Was hast du mit Offener Jugendarbeit zu tun?
Stefan Hößl: Ich bin Erziehungswissenschaftler und Pädagoge und Soziale und Jugendarbeit sind die Homezone, aus der ich komme. Ich habe neben dem Studium sieben Jahre in der Wohnungslosenhilfe gearbeitet, auch in Jugendzentren. Mir sind die Konzepte der Offenen Jugendarbeit bekannt und ich denke den Kontext immer mit. Jetzt bin ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln im Bereich der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit tätig und habe dabei auch immer wieder mit Fachkräften aus der Offenen Jugendarbeit zu tun. Das ist mir auch wichtig, das ist ein hochrelevanter gesellschaftlicher Bereich.

Wir erleben, dass viele gar nicht wissen, was Offene Jugendarbeit ist. Warum ist sie so wichtig?
Offene Jugendarbeit bietet viele Möglichkeiten, jungen Menschen in ihrer Entwicklung Freiräume zu verschaffen. Oft wird die Offene Jugendarbeit degradiert zu reinen freizeitpädagogischen Maßnahmen, aber sie gehört zur informellen Bildung und bietet Räume für politische Bildung. Man kann Prozesse anregen und sie begleiten. Nicht einfach, um Jugendliche auf einen bestimmten Weg zu bringen, sondern im Sinne eines Ermöglichens und Begleitens von Entwicklungs-, Entfaltungs- und auch Emanzipationsprozessen. Ganz anders, als dies im Zwangsraum, im vollkommen undemokratischen Rahmen Schule möglich ist.

Warum sollten Leute dein Buch lesen?
Das Buch füllt einige Lücken in der Forschung. Es versucht aus einer Religiosität wertschätzenden und rassismuskritisch informierten Perspektive die Frage zu erörtern, was Antisemitismus überhaupt mit Religiösem zu tun hat oder zu tun haben kann. Und wie gehen wir damit pädagogisch um? Generell haben wir im Nachgang der zweiten Intifada viele Debatten im öffentlichen Raum zum Antisemitismus in muslimischen Zusammenhängen. Die Anführungszeichen bei „muslimische Jugendliche“ in meinem Buchtitel sind mir dabei ganz wichtig, weil es wirklich um die Frage geht, welche Rolle der Religiöses spielt. Es geht um ein kritisches Hinterfragen von Zuschreibungen.

Wie sie im antimuslimischem Rassismus zu finden sind?
Es gibt einen virulenten antimuslimischen Rassismus in Deutschland, es gibt Islamfeindlichkeit. Es wäre aber falsch, deswegen Zusammenhänge auszublenden. Die Meinungs- und Einstellungsforschung der letzten zwanzig Jahre kommt recht deutlich zu dem Ergebnis, dass Personen, die sich als muslimisch verorten, prozentual häufiger antisemitischen Aussagen zustimmen als Nicht-Muslim*innen. Andererseits ist es genauso lange schon zum eigenständigen Topos geworden, von einer intrinsischen Verbindung zwischen Islam bzw. Muslimischsein und Antisemitismus auszugehen und da einen genuin islamischen oder muslimischen Antisemitismus auszumachen. Genau das habe ich zum Gegenstand gemacht.

Wie bist du vorgegangen?
Ich habe versucht, differenzierte Perspektiven zwischen Tabuisierung und Dramatisierung aufzumachen. Dazu habe ich biografische Interviews mit 16- bis 20-Jährigen geführt, die sich als Muslim*innen verstehen. Wichtig war mir, um die Vergleichbarkeit zu garantieren, dass sie keine direkten Bezüge zum israelisch-palästinensischen Konflikt haben. Direkte Fragen zu Antisemitismus habe ich nicht gestellt, sondern habe im Interview Fragen nach dem Wissen um das Judentum, nach Kontakten zu Juden*Jüdinnen und nach der Wahrnehmung des israelisch-palästinensischen Konflikts gestellt. Ich wollte aus den Aussagen Zusammenhänge erschließen.

Es wird oft eine Kausalbeziehung hergestellt. ‚Weil jemand muslimisch ist, ist er*sie antisemitisch‘.
Genau, mir geht es um die Frage: Gibt es überhaupt eine Verbindung, und was ist genau der Zusammenhang? Muslimischsein ist kein eindimensionaler Faktor: Man ist muslimisch und in ganz unterschiedlichen politischen Spektren verortet, sozioökonomische und andere Faktoren spielen eine Rolle. Das wird aber oft alles ausgeblendet. Der Antisemitismus von Muslim*innen kann unterschiedliche Ursachen und Hintergründe haben. In meiner Studie zeigt sich sehr deutlich: Auch wenn Menschen sich muslimisch verorten und antisemitische Haltungen zeigen, muss das nicht direkt etwas mit ihrer Religiosität zu tun haben! Es gibt beispielweise einen antisemitischen Konsens in der Clique, aber zur religiösen Identität der Beteiligten gibt es keinen Zusammenhang, während es bei anderen sehr wohl Überschneidungen geben kann.

Religion kann also eine Rolle spielen?
Wo religiöse Aspekte von Bedeutung sind, ist das in sozialer Hinsicht. Also nicht in Bezug auf Kategorien wie Beten oder Glauben und Ähnliches. Aber auf Ebene von sozialer Zuschreibung sowie Selbstidentifikation als muslimisch. Die Frage des Muslimischseins bedeutet: Wer bin ich in der Welt und wie nehme ich die Weltbevölkerung wahr? Da gibt es eine Brückenfunktion zum Antisemitismus, wenn die Jugendlichen sich selbst in einer imaginierten muslimischen Wir-Gruppe verorten: Auch wenn sie gar keine eigenen Berührungspunkte zum israelisch-palästinensischen Konflikt haben, sehen sie sich als Teil des involvierten Wirs der Muslim*innen und in direkter Gegner*innenschaft zu dem, was sie als den Staat Israel wahrnehmen. Oft wird in generalisierender Art und Weise aber auch einfach auf „die Juden“ abgehoben. Das sind alles Verkürzungen, die auch wenig mit den tatsächlichen Muslim*innen auf palästinensischer Seite im Konflikt zu tun haben, aber diese Kategorien sind da. Diese Realität besteht zwar nur in den Köpfen, aber der Antagonismus zwischen der Freund*innengruppe „wir, die Muslime“ kontra „sie, die Juden“ ist sehr wirksam und ein Brückenschlag zum Antisemitismus.

Lässt sich das an konkreten Beispielen aus deiner Studie illustrieren?
Es gibt einen 18jährigen Gymnasiasten, Kadir, die Großeltern sind aus der Türkei, die Eltern sind beide hier geboren, er auch, er hat gar nichts mit dem Israel/Palästina-Konflikt zu tun. Ich habe nach der Wahrnehmung des Konflikts in seiner Familie und seinem Freundeskreis gefragt. Er hat gesagt: „Meine Eltern regen sich darüber auch auf, aber mein jüngster Onkel hat auch ein bisschen den Judenhass, weil sie die Leute halt auch so quälen. Manchmal denk ich mir auch so ‚ja, Hitler hat was Gutes getan, dass die etwas von denen ausgelöscht haben. Sonst, wenn die noch mehr wären, dann würden die noch mehr Leid antun.‘“ (Zitat vereinfacht.)

Auf meine Frage nach dem Konflikt kommt er gleich auf den Judenhass des Onkels, hier findet also schon eine Ineinssetzung von Israel mit Juden statt, genauer gesagt der jeweils eigenen Vorstellungen von Israel und Juden*Jüdinnen. Kadir zieht auch gleich eine Linie zum Nationalsozialismus, zur Shoa, und nimmt dabei eine positive Haltung ein. Das antisemitische Bild ist klar, aber hat erst mal nichts mit religiösen Aspekten zu tun. Im weiteren Interviewverlauf zeigt sich sehr deutlich, dass religiöse Verortungen hier die Brücke zum Antisemitismus bilden. Wichtig ist: Es geht mir bei meiner Forschung nicht bloß um einzelne Zitate, sondern um wiederkehrende Strukturelemente und -ähnlichkeiten, die durch die rekonstruktive Analyse des gesamten Interviews deutlich werden. So kommt Kadir immer wieder von selbst darauf zu sprechen, dass er eigentlich gar keine Lust habe, über Jüdinnen*Juden zu sprechen, er möge sie einfach nicht.

Und was hat das mit Religion zu tun?
Über Muslim*innen sagt Kadir an einer Stelle: „Das sind halt meine Geschwister im Glauben, ich muss denen helfen, das ist meine Pflicht, für Geschwister ist man immer da. Man muss auch alles tun für die Geschwister, egal, wie der andere drauf ist.“ (Zitat vereinfacht.) Es geht bei der Bezugnahme auf Muslim*innen um eine soziale Verortung, das ist ganz deutlich. Theologisch lässt sich eine solche Haltung m.E. nicht rechtfertigen: Eine absolute Solidarität, egal, was der andere tut, auch wenn er ein Mörder ist, das ist keine moralisch-ethische Haltung. Es geht um Religionszugehörigkeit als soziale Zugehörigkeit und Verortung, nicht um Theologie.

Was hat dich motiviert, das Buch zu schreiben?
Die erste Idee dazu hatte ich etwa 2005, im Nachgang der zweiten Intifada. 2002/03 wurde die Studie „Manifestations of anti-Semitism in the European Union“ von Juliane Wetzel und Werner Bergmann veröffentlicht, in der als hauptsächliche Träger*innengruppen des Antisemitismus „right-wing extremists or radical Islamists or young Muslims mostly of Arab descent, who are often themselves potential victims of exclusion and racism“ benannt wurden. Muslime, eigentlich nur in der männlichen Form, als Trägergruppe von Antisemitismus gerieten in Deutschland damals erstmals ins Blickfeld, mit einem großen medialen Niederschlag. Dies stand in Kontrast zur empirischen Grundlage, und erst langsam wurde mit Forschung nachgezogen. Dabei war der Blick sehr defizitorientiert, zu Muslim*innen wurden oft mit Bezug auf Islamismus und Antisemitismus geforscht. Qualitative Forschung gab es kaum, zuerst Barbara Schäuble 2012, dann auch Günther Jikeli 2012, fast zehn Jahre nach der ersten Studie, Anke Schu und einige wenige andere später. Also sehr wenig Forschung, aber starke mediale Präsenz des Themas. Eine rassismuskritische Sensibilität vermisste ich in der Berichterstattung, ebenso wie in der Forschung, oftmals.

Was hast du anders gemacht?
Es gab lange keinen ressourcenorientierten Blick, und es wurde auch nie in der Tiefe und wirklich ernsthaft nachgefragt: Was bedeutet das Muslimischsein in diesem Zusammenhang? Teilweise wurde gerade in der medialen Berichterstattung einfach von phänotypischen Merkmalen ausgehend auf das Muslimischsein geschlossen, mit Zuschreibungen gearbeitet und alles, was Muslim*innen machten oder sagten, wurde mit dem Muslimischsein erklärt. Die Frage nach Religiosität als Ressource gegen Antisemitismus wurde gar nicht erst gestellt – ein Zusammenhang, den ich aber immer wieder finden konnte in meiner Forschung. Also ganz einfach, die Motivation lag in der Frage: Hat das Muslimischsein überhaupt eine Bedeutung, und wenn ja, welche?

Worüber hast du mit den Jugendlichen gesprochen, um das rauszufinden?
Ich habe erst mal ganz offen gefragt, wie muslimische Jugendliche selbst das Religiöse fassen, auch im Verlauf ihrer biografischen Entwicklung. Ob es um Gender geht, um Normen, die das Leben leiten sollen, um ästhetische Dimensionen, oder ganz generell um das eigene Selbstverständnis. Das Ernstnehmen der religiösen Aspekte im Denken und Wahrnehmen von Jugendlichen, nicht einfach nur die Unterscheidung „sehr religiös“ / „wenig religiös“, die subjektorientierte Perspektive und eine grundlegende Wertschätzung der Interviewten, das war mir wichtig. Muslim*innen als Subjekte und handelnde Akteur*innen und ihre Religiosität als Ressource zu sehen, etwa eine universalistische Werthaltung und andere positive Aspekte, das gibt es kaum. Oft geht es in der Forschung nur um muslimische junge Männer, zudem nach Außenzuschreibung, eigene Verortungen spielen keine Rolle. In meiner Forschung kommen Jugendliche vor, die sich sehr divers verorten, und zwar in beiden Konstellationen, mit und ohne antisemitische Haltungen.

Hast du ein Beispiel dafür, wie Religiosität als Ressource wirken kann?
Es gibt beispielsweise religiös-universalistische Orientierungen, eine starke Idealisierung des Propheten Mohammed und seiner Liebe für alle Menschen. Diese Wertorientierung kommt etwa darin zum Tragen, dass es eine starke Aversion, eine Ablehnung des Leidens von Menschen gibt. Das Wohlergehen aller Menschen ist ein starkes Ideal. Wenn Menschen als Menschen fokussiert werden, und nicht, wie im Kontext des israelisch-palästinensischen Konflikts, primär in Kategorien von Nationen oder Religionen gesehen werden, dann können Freund-/Feindbilder, können Antisemitismen, bewusst im Plural, nicht andocken. Es geht nicht um Universalismus um seiner selbst willen, Universalismus kann auch blind machen für Differenz. Worum es geht: Jugendliche, die diese Art des religiösen Universalismus pflegen, können nicht antisemitisch denken, argumentieren, wahrnehmen! Sie verkörpern eine nichtantisemitische Haltung, auf Grundlage ihrer religiös fundierten Denkstruktur. Auch das kommt in der öffentlichen Debatte nicht vor, am ehesten spielt es bei interreligiösen Begegnungen eine Rolle.

Warum gelingt Jugendarbeit besser, wenn man die Ideen aus deinem Buch verfolgt?
Ich verstehe mich im Anschluss an Arnd-Michael Nohl als Vertreter einer Pädagogik kollektiver Zugehörigkeit. Wir sehen ja: Wenn Jugendliche sich antisemitisch äußern, reduzieren sie sich selbst auf nur eine Kategorie ihrer Zugehörigkeiten. Kadir, den ich erwähnt habe, ist Vieles: Er ist 18jähriger Gymnasiast, er ist heterosexuell, er ist verliebt, er mag Fußball und vieles, vieles mehr.

In meiner pädagogischen Arbeit versuchte ich, Vielfalt als etwas deutlich zu machen, das nicht nur interpersonal, zwischen den Menschen, existiert, sondern die auch intrapersonal, in einer einzelnen Person besteht. Antisemitismus funktioniert stark über die Imagination von antagonistischen nationalen, religiösen oder – in Anführungszeichen, weil oft ein Ersatz für „rassisch“ – „ethnischen“ Gruppen: Also etwa, dass Juden keine Deutschen sein könnten und umgekehrt. Oder ‚wir‘ als ‚Ukrainer‘, als ‚Franzosen‘, als ‚Araber‘ gegen ‚die Juden‘. Es muss demgegenüber deutlich werden, dass alle Menschen vielfältige Bezüge in die Welt haben, vielfältige Facetten ihrer Identität, und dass auch Gemeinschaften in sich vielfältig sind. Wir werden den Jugendlichen so, wie sie sind, gerechter, wenn wir ihnen nicht mit Schablonen oder stereotypisierenden Haltungen begegnen. Dieses Buch ist ein Plädoyer gegen solche, im Kern paternalistische Haltungen in der pädagogischen Arbeit. Es geht um einen anderen, einen professionellen Zugang.

Viele Muslim*innen empfinden sich selbst als „Sonderforschungbereich“, wie es die Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan einmal ausgedrückt hat. Wie kann man als Wissenschaftler*in mit dieser Spannung umgehen, einerseits ein realistischeres Bild aufmachen zu wollen, dafür aber wieder Menschen als Muslim*innen unter die Lupe nehmen zu müssen? Zumal, dies die Kritik von Kulaçatan und anderen, Muslim*innen immer im Kontext von Prävention von Kriminalität, Extremismus und ähnlichen Phänomenen beforscht werden.
Vor 9/11, den islamistischen Anschlägen auf die USA, gab es kaum Forschung zum Muslimischsein, zu muslimischem Leben in Deutschland. Oder wenn, dann unter anderen Fragestellungen, die Frage nach dem Migrationshintergrund, dem Hintergrund der Eltern als Gastarbeiter*innen, den nationalen Identifikationen. Es ist daher legitim, das Muslimischsein zum Forschungsgegenstand zu machen, denn es hat eine Bedeutung für Millionen von Menschen in diesem Land. Wenn aber weiterhin die Muslim*innen nur als die Anderen betrachtet werden und weiterhin nur eine Defizitperspektive eingenommen wird, wenn es immer nur um Islamismus- und Antisemitismusforschung geht, ist das eine Verkürzung.

Antisemitismus und Jugendarbeit. Was muss sich ändern?
Generell gibt es auch heute noch viel Scheu seitens von Pädagog*innen, Antisemitismus anzugehen. Ich hatte sehr viele Erlebnisse mit Antisemitismus in der Offenen Jugendarbeit in Jugendzentren, bei denen Menschen in Verantwortungspositionen nicht reagiert haben. Da würde ich mich nicht nur freuen, wenn mehr Fachkräfte sich verhalten; ich wünsche mir, dass das als Teil der Professionalität – als Selbstverständlichkeit und professionelle Selbstverpflichtung – getan wird. Es gibt viele Möglichkeiten, etwas zu tun; sich selbst mit Antisemitismus zu beschäftigen, kann ein erster Schritt sein. Die Angebote, die es gibt, auch zu nutzen, der nächste. In meinem Buch gibt es beispielsweise eine Einführung zu Antisemitismus, die für sich steht. Man kann externe Fachleute mit ins Boot holen, man muss nicht alles selbst machen. So oder so – letztlich gilt: Nichts zu tun ist keine Lösung.

Antisemitismus unter ,,muslimischen Jugendlichen“. Empirische Perspektiven auf Antisemitismus im Zusammenhang mit Religiösem im Denken und Wahrnehmen Jugendlicher, Stefan Hößl, 476 Seiten, 2020, 69,99 Euro, Springer

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