Bereits kurz nach ihrer Gründung setzte die Amadeu Antonio Stiftung einen Schwerpunkt im ländlichen Raum. Dabei konzentrierte sie sich auf Gegenden in Sachsen und Vorpommern. Sie sollten zu Modellregionen für die Arbeit der Stiftung werden. Zum einen, weil der Rechtsextremismus dort besonders präsent war. Und zum anderen, weil es dort oft besonders schwer fällt, aktiv zu werden. In kleinen Städten und Dörfern fehlte oft eine couragierte Zivilgesellschaft, also engagierte Bürgerinnen und Bürgern, die selbst dafür sorgen können, dass junge Leute sich nicht radikalisieren und Erwachsene in die Schranken gewiesen werden, die sie durch hasserfüllten Populismus auch noch darin bestärken. Seit der Wiedervereinigung hat sich der Rechtsextremismus im Osten Deutschlands weiter entwickelt, aber er bleibt präsent. Rechtsextremismus kam aus der Mitte der DDR-Gesellschaft und mischte sich mit einem rebellischen Antikapitalismus zu einem neuen nationalen Sozialismus. Er drang in die Jugendkultur ein und wurde dabei flankiert von der Abwehr der erwachsenen Mehrheitsgesell-schaft gegen »die Ausländer«. Ohne Rassismus als Alltagsphänomen quer durch alle politischen Haltungen hätte der Rechtsextremismus niemals so erfolgreich werden können. Es fehlte Empathie für jene, die von rassistischer Verachtung getroffen wurden. Das machte es leichter, auch offensichtlichen Rechtsextremismus zu verdrängen, zu verleugnen oder sogar gut zu heißen. Der Anpassungs- und Konformitätsdruck, in kleineren Ortschaften besonders präsent, erschwerte es Menschen über viele Jahre sehr, sich gegen diesen Trend zu stellen.
Die Amadeu Antonio Stiftung entstand als Antwort auf diese Vereinzelung der Engagierten gerade in kleineren Orten. Nachdem bereits vor der Gründung der Stiftung durch die RAA (Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie) und das Zentrum Demokratische Kultur die Situation in Kommunen analysiert und Handlungsempfehlungen entwickelt wurden, lag es auf der Hand, die gewonnen Erfahrungen und Erkenntnisse durch die Stiftungsarbeit zu multiplizieren und daraus weitere Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Wichtigste war: die zivile Gesellschaft vor Ort ist die einzig denkbare Partnerin, um Rechtsextremismus entgegentreten zu können. Gibt es niemanden dort, dann stehen die Dinge zunächst schlecht. Gibt es jedoch jemanden, auch wenn er noch nicht in Erscheinung tritt, dann kann sich auch eine demokratische Alltagskultur entwickeln, deren entscheidender Grundsatz die Gleichwertigkeit aller Menschen ist. Potenzielle Partner*innen zu finden, sie zu ermutigen und zu unterstützen, ist die zentrale Aufgabe der Amadeu Antonio Stiftung. Wer können diese Partnerinnen und Partner sein? Oder anders formuliert: Wer gehört eigentlich zur Zivilgesellschaft, und wer nicht? Dieser Frage kommt in der Folge noch einige Bedeutung zu.
Der ländliche Raum hat sich in den letzten Jahren entwickelt. Einigen Regionen geht es wirtschaftlich sehr gut, andere haben mit Abwanderung und Überalterung zu tun. Einigen ist es gelungen, ein integrativer Ort für Menschen zu sein, auch wenn die Gesellschaft sich ausdifferenziert hat. Bei anderen gibt es dafür weniger Chancen. In manchen Orten stieß der Rechtsextremismus irgendwann auf Widerstand oder Unmut, der es schaffte, ihn unattraktiv werden zu lassen. In anderen ist das nicht gelungen. Gelingen oder Misslingen hat mit vielen Aspekten zu tun. Allerdings spielt die wirtschaftliche Lage meist keine wesentliche Rolle. Alle Orte in ländlichen Regionen haben sich verändert – in ihrer Struktur, ihren Bauten, ihrer Bevölkerung. Und unabhängig davon, um welche Veränderung es sich handelt, die Menschen müssen sie zunächst wohl oder übel akzeptieren. Solche Entwicklungen verlaufen dynamisch oder langsam, je nach den Umständen, doch sie sind – gemessen an der Zeit um den Mauerfall – in jedem Fall auffällig und meist auch dramatisch. Allein dies hat dafür gesorgt, dass die Menschen sich dazu verhalten müssen; sie begrüßen diesen Wandel oder wehren sich gegen ihn und sie tun dies unmittelbarer als in großen Städten. Es ist ein Teil ihrer Alltagskommunikation.
Die Zivilgesellschaft
Der Begriff Zivilgesellschaft hat eine lange Geschichte. In ihr spiegelt sich, um es stark zu vereinfachen, die Geschichte des Aufbegehrens gegen die jeweils herrschende Macht mit zivilen Mitteln. Ziel dabei war und ist immer mehr, möglichst viele Teile der Gesellschaft in die Ausformung der Rechte von Individuen einzubeziehen. Der Adel gegen die absolute Monarchie verlangte Mitbestimmung, das Bürgertum gegen den Adel, das Parlament gegen die Monarchie, die Frauen gegen ihren Ausschluss vom Wahlrecht und so weiter. In der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie gibt es auch weiter vermeintliche Minderheiten, die nach der Ausformung ihrer Rechte verlangen. Dabei ist die Gleichstellung und Partizipation der jeweiligen Gruppen stets das Ziel ihrer zivilen Bemühungen. Heute beispielsweise sind es Homosexuelle und Einwanderer, die nach gleichen Rechten verlangen. Vor einigen Jahren waren es Menschen mit Behinderungen, die eine Anpassung des öffentlichen Lebens auf ihre Situation bestanden.
Die zivile Gesellschaft, manchmal wird sie auch Bürgergesellschaft genannt, kennt aber auch mittelbare Ziele. So ist die Bewegung zum Umweltschutz inzwischen selbstverständlich und hat auch in den vergangenen Jahrzehnten viel erreicht. Die Umwelt kann sich nicht selbst vertreten im Gegensatz zu Menschen, die für ihre Rechte eintreten. Deshalb hat die Umweltbewegung unter anderem dafür gesorgt, dass im Gesetz Handlungen zum Nachteil der Umwelt auch strafbar sind, auch wenn die Umwelt selbst sie nicht anzeigen kann. Dies tun Organisationen der zivilen Gesellschaft, die ihre Interessen vertreten. Etwas Ähnliches für die demokratische Kultur ins Gesetz zu bringen würde es möglich machen, Handlungen unter Strafe zu stellen, die eben diese demokratische Kultur im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben unmöglich machen. Wäre es zum Beispiel in einem Ort allgemeine Praxis, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe nicht mit dem Schutz der Behörden vor Übergriffen und Schikanen rechnen können, dann könnte eine zivilgesellschaftliche Organisation dies anklagen. Solches Vorgehen würde rasch zur Verbesserung der Standards innerhalb der Institutionen führen, genauso wie es im Umweltschutz zu neuen Normen in der Industrie gekommen ist.
Bürger*innen sind alle
Doch bevor es soweit ist, müssen die Bürger*innen bereit sein, sich für solche Ziele zu engagieren. Damit kommt die Frage auf, wer eigentlich zur Zivilgesellschaft gehört. In einer immer differenzierter arbeitenden Demokratie, in der immer mehr Menschengruppen die Ausformung ihrer Rechte erreichen, können sich entsprechend auch immer mehr engagieren. Denn dies wird zu einer individuellen Entscheidung und muss niemanden ausschließen. In der Geschichte des Begriffs Zivilgesellschaft gab es Momente harter gesellschaftspolitischer Gegnerschaft, die kaum ein Abweichen aus den jeweiligen Rollen zuließen. Im Konflikt zwischen der absoluten Monarchie und dem Bürgertum oder niederem Adel war es kaum vorstellbar, dass der Hof selbst sich für die Rechte der Niederen stark gemacht hätte. Heute aber muss es keinen Gegensatz zwischen Politik und Verwaltung auf der einen Seite und dem Anliegen der Bürger*innen auf der anderen Seite geben. Protestieren Bewohner*innen eines Ortes gegen Neonazis und verlangen mehr Aufmerksamkeit durch die Kommune, dann muss es keinesfalls heißen, dass alle Personen, die in der Kommune arbeiten, gegen einen solchen Protest oder ein solches Verlangen wären. Im Gegenteil: der Mitarbeiter einer Verwaltung, eine Parlamentarierin oder sogar ein Minister können sich für eine solche Forderung stark machen. In diesen Institutionen finden sich viele Menschen, die genau wie andere Dinge bewegen und die etwas erreichen wollen. Gerade beim Thema Rechtsextremismus sollte dies Konsens sein. Bürger*innen sind alle. Zivile Gesellschaft können viele sein, nämlich diejenigen, die sich für die Ausformung und den Schutz von Rechten einsetzen – auch gegen eine Mehrheitsmeinung.
Das Handeln von Personen kann selbstverständlich in diesem Sinne engagiert und mutig sein, auch wenn sie im Staatsapparat beschäftigt sind. Gerade auf kommunaler Ebene ist es wichtig, solche Personen zu finden und auch sie zu ermutigen und zu unterstützen. Rechtsextremismus zu bekämpfen ist ein komplexes Feld. Es reicht nicht, Nazis zu vertreiben. Um eine demokratische Alltagskultur lebendig zu machen, muss sich oft in vielen Bereichen des kommunalen Lebens etwas ändern oder weiterentwickeln. Was genau das jeweils sein muss, sollten engagierte Bürger*innen außerhalb und innerhalb der Verwaltungen erdenken. Für manches braucht es keinerlei staatliches Handeln, für anderes schon. In manchem kann der Staat behindernd sein, in anderem hilfreich. Allen, die in diesem Feld arbeiten, sei also dringend geraten, hier keine ideologischen Abgrenzungen vorzunehmen, sondern sich von den Chancen und realen Bedingungen in der Kommunikation und Kooperation leiten zu lassen. Anders ist das komplexe Ziel einer Kommune mit einer Alltagskultur ohne Diskriminierung von Gruppen und Personen nicht zu erreichen. Ist man sich über dieses Ziel im Klaren und darüber, dass es hier keinen ideologischen Konflikt geben sollte, dann kann über die Art der Kommunikation und Kooperation nachgedacht werden. Die Amadeu Antonio Stiftung hat sich seit Beginn ihrer Arbeit im ländlichen Raum in diesem Sinne für eine offene, an den Gegebenheiten und Möglichkeiten orientierte Kultur der Zusammenarbeit aller Gruppen und Personen eingesetzt.
Kommunikation und Kooperation
Wie bereits festgestellt, ist die Kommunikation im ländlichen Raum stets unmittelbarer als in der Anonymität der Großstädte. Hier kennen sich die Bewohner*innen. Sie verbindet das Auf und Ab ihres Ortes, die persönlichen Hochs und Tiefs von Nachbar*innen, Freund*innen oder sogar Feind*innen. Sie sind verbunden mit dem Ort auf eine Art, die in der deutschen Sprache am besten mit dem Wort Heimat seinen Ausdruck findet. In diesem Wort spiegelt sich Tradition wie Verbundenheit, es assoziiert ebenso die Gemeinschaft von Menschen wie die Landschaft einer Region. Trotz dieser Reihe positiv besetzter Begriffe waren und sind die Kommunikation und Kooperation nicht immer in gleicher Weise positiv. Gerade wenn die Erwartungen an einen Ort als heimatliche Idylle besonders groß sind, prallen sie ungebremst auf die Probleme des Alltags und des Lebens im Allgemeinen. Besonders offensicht-lich war die Diskrepanz zwischen Idylle und Realität in den Zeiten des Nationalsozialismus. Aus der aggressiven Abwehr gegen alles vermeintlich Fremde wurde die Ausgrenzung der eigenen Nachbarn und schließlich ihre Vertreibung und der Mord an ihnen. Diese krasse Diskrepanz hat dafür gesorgt, dass der Heimatbegriff heute ambivalent und umstritten wahrgenommen wird.
Die Verteidigung der Idylle um jeden Preis hat gerade die schlimmste Barbarei, zu der Menschen in der Lage sind, gerechtfertigt oder sogar hervorgebracht. Diesem Heimatbegriff wird bis heute angelastet, dass er Konflikte vermeidet, ausblendet, abwehrt und damit Aggression und Hass potenziert. Der Zivilisationsbruch von Holocaust und Vernichtungskrieg konnte möglich werden, weil eine konfliktbereite zivile Gesellschaft kaum vorhanden war. Im ländlichen Raum, der als Sinnbild deutscher Heimat, deutschen Blutes und deutschen Bodens galt, traf dies besonders zu. Eine Kultur von Gemeinschaft, die Verschiedenheit, Konflikte und Widersprüchlichkeit einschließt, zieht heute Schritt für Schritt auch in den ländlichen Raum ein. Die alte, eher auf Abschottung beruhende Gemeinschaft ist definitiv ein Auslaufmodell. Die Frage ist nur, wie Menschen und Politik mit dieser Tatsache umgehen. Nehmen sie diese Herausforderung an und gestalten die Zukunft? Oder wehren sie sich, beharren auf Abgrenzung? Wie diese Frage beantwortet wird, sagt viel über die Kommunikation und Kooperation innerhalb des Gemeinwesens. In den Kommunen gibt es oft unterschiedliche Auffassungen über das richtige Vorgehen. Daher spielen diejenigenBürger*innen eine besondere Rolle, die als Meinungsführer*innen gesehen werden. Sie können es qua Amt sein, so wie Bürgermeister*innen oder Pfarrer*innen, aufgrund ihres Einflusses wie Unternehmer*innen oder Redakteur*innen, oder als Vertreter*innen von traditionsreichen Vereinen. Andere werden gehört, weil ihre Persönlichkeit sie Einfluss und Ausstrahlung haben lässt, weil sie beispielsweise besonders organisations- und konfliktfähig sind.
Im öffentlichen Leben in der Kommune hängt viel von den Meinungsführer*innen ab. Oft sogar mehr als von Vertreter*innen von Parteien oder Verbänden. Das ist, neben der größeren Nähe der Menschen untereinander, ein wichtiger Unterschied zwischen dem urbanen und dem ländlichen Raum. Hier werden die Konflikte ausgetragen, das Selbstbild des Ortes bestimmt, verteidigt oder verändert. In kleinen Orten aber gelten Konflikte häufig als ein Zeichen dafür, dass die erhoffte Gemeinschaft nicht richtig funktioniert. Deshalb kann es Bemühungen geben, Konflikte klein zu halten, abzuwehren oder gar unter den Teppich kehren zu wollen. Obwohl lebendiges Aushandeln von Konflikten oft weit produktiver und integrativer für die Kommune ist, erzeugt es bei manchen ein Gefühl von Unsicherheit oder gar Furcht, in diesen Konflikten zu versagen oder zu unterliegen.
Es geht um demokratische Alltagskultur im Ort
Bei den Aktivitäten der Zivilgesellschaft gegen Rechtsextremismus geht es vor allem Anderen um demokratische Alltagskultur im Ort, die allen Mitsprache ermöglicht und das Klima im Ort dauerhaft verändert. Demokratische Alltagskultur erprobt sich oft zunächst unabhängig von Strukturen der repräsentativen Demokratie im Ort – bevor sie diese inspiriert. Es kann also sein, dass in der Zivilgesellschaft ein Thema diskutiert wird und erst sehr viel später im Prozess der Auseinandersetzung die lokalen Parlamente erreicht und in Beschlüssen mündet. Demokratische Kultur, dies sei an dieser Stelle noch einmal betont, meint das generelle Klima, die Möglichkeit, offen über Themen sprechen zu können, die die Rechte von Minderheiten betreffen, mit dem Ziel, Standards auszuhandeln, die diese Rechte schützen. Die Frage, ob eine Kommune beispielsweise eine Asylunterkunft als Fremdkörper bekämpft oder sich um deren Bewohner*innen bemüht, sagt viel über den Grad der demokratischen Kultur aus. Das Gleiche gilt beim Rechtsextremismus. Wird er als Problem wahr- und ernstgenommen oder wird er relativiert oder gar entschuldigt als krisenbedingtes Verhalten junger Rebell*innen, deren abweichende politische Orientierung auch noch der »großen Politik« angelastet wird? Häufig geht eine solche Haltung gegenüber dem Rechtsextremismus mit dem Wunsch einher, von derlei Problemen nichts an die Außenwelt dringen zu lassen, um so dem Ruf des Ortes nicht zu schaden. Die Identifikation mit dem Ort oder der Verwaltungseinheit des Ortes ist dabei oft erstaunlich hoch und geht mitunter weit über das hinaus, was mit Heimatort gemeint sein kann, denn viele Kommunen unterliegen inzwischen einer gemeinsamen Verwaltung mit anderen, weiter entfernt liegenden Orten, die wenig mit gewachsenen Strukturen zu tun haben.
Alle diese Dinge spielen bei der Kommunikation und Kooperation im ländlichen Raum eine große Rolle. Es erfordert von sämtlichen Beteiligten in einem Aushandlungs- und Diskussionsprozess eine solide Kenntnis der Verhältnisse und einen souveränen Umgang miteinander. Das schließt keineswegs heftige Kontroversen aus. Der erste und wichtigste Schritt in einer Kommunikation, die zu Kooperation führen soll, ist zunächst Respekt vor dem Gegenüber – auch um die Furcht vor Konflikten und Veränderungen generell abzubauen. Ebenso wichtig ist es, deutlich zu machen, dass der Ruf einer Kommune umso besser wird, wenn sie sich nicht vor Konflikten drückt, sondern Lösungen dafür anstrebt. Das mag einfach klingen, ist jedoch unter den Bedingungen des ländlichen Raums die größte Herausforderung. Die Bewohner*innen mitzunehmen und sie auch in anderen Fragen partizipieren zu lassen, wird so einfacher und ist ein weiterer Schritt zu einem Gemeinwesen, das sich vor demokratischer Kultur nicht fürchtet, sondern sie vielmehr als Gewinn begreift.
Region in Aktion – Vorpommern und Zossen
Das Projekt Region in Aktion ist von der Amadeu Antonio Stiftung konzipiert worden, um in der Praxis herauszufinden, wie in ländlichen Regionen dem wachsenden Einfluss Rechtsextremer am gelungensten entgegengewirkt werden kann. Gerade in Ostvorpommern zeigte sich während der Wahlkämpfe, dass die NPD dort sehr aktiv ist und viele Anhänger*innen hat, während sich die demokratischen Parteien immer weiter zurückziehen. Die Vernetzung der Rechtsextremen wuchs, die der Demokrat*innen war wenig vorhanden. NPD-Mitglieder gaben sich als Kümmerer aus, während die staatlichen Strukturen gerade in wenig besiedelten Gebieten immer mehr ausgedünnt wurden. Klassische Medien und die lokale Öffentlichkeit wie Regionalzeitungen hatten mit Anzeigenrückgängen und Leserschwund zu kämpfen. Populistische Slogans der NPD griffen Konflikte in den Kommunen auf, vor denen die standardisierten Antworten der Demokrat*innen verblassten. Mit anderen Worten: die Rechtsextremen profitierten vom allgegenwärtigen Unwillen, sich mit Konflikten auseinanderzusetzen. Als die NPD jedoch beschloss, ihr Pressefest in Viereck bei Pasewalk abzuhalten, begann ein Wendepunkt. Die Bürgeri*nnen in der Region, die die Entwicklung der NPD und der Nazi-Kameradschaften bisher eher schweigend missbilligt haben, organisierten nun eine große Gegenveranstaltung mit mehr als 2.000Teilnehmer*innen und blieben auch später dem Problem gegenüber aufmerksam.
Die Situation in Zossen ist anders. Hier gibt es eine lokale rechtsextreme Szene und aktive Neonazis, jedoch keine flächendeckend funktionierende Strategie der NPD. Die Nazis sind präsent und auch gewaltbereit, jedoch dominieren sie nicht die Kultur im Ort. Die Region Zossen ist weniger dünn besiedelt und hat daher keine Probleme mit dem Rückzug kommunikativer oder staatlicher Strukturen. Die Strukturprobleme unterscheiden sich hier kaum von denen anderer Regionen. Im Gegenteil: der Gemeinde, der auch verschiedene kleine Ortschaften angehören, geht es wirtschaftlich gut. Durch kleine und größere Unternehmen und Betriebe ist hier eine ansehnliche Mittelschicht herangewachsen. Das hat viel Mühe gekostet inmitten von Brandenburg, und auch deshalb fürchten die Bürger*innen, dass es vielleicht nicht so bleiben könnte. Konkrete Gründe braucht es für diese Sorge nicht. Der verhältnismäßig gelungene Aufstieg birgt immer auch eine Angst vor Abstieg.
In der Kommune der Zukunft ist kein Platz mehr für ein Klima der Angst
Auch aus diesem Grund reagieren Stadtverwaltung und einflussreiche Bürger*innen besorgt, wenn von rechtsextremen Übergriffen berichtet wird. Sie sehen darin den Ruf ihrer Stadt und ihres Standortes bedroht und sich Vorwürfen ausgesetzt, nicht genug gegen Rechtsextremismus zu tun, oder ihn des Images wegen sogar zu verharmlosen. In dieser Rolle gefangen, war es kaum möglich, Allianzen mit jenen zu bilden, die ihre Aufgabe in der Bekämpfung des Rechtsextremismus sahen. Und umgekehrt konnten Initiativen wie die Bürgerinitiative Zossen zeigt Gesicht nicht aus der Rolle der Anklägerin über die Zustände in Zossen heraus, die stets auch eine Kritik an der abwehrenden Haltung der Stadtverwaltung enthielt. So baute sich ein Konflikt in der Stadt auf, der auch in den Medien wahrgenommen wurde. Das führte schließlich dazu, dass die Stadtverwaltung umso heftiger bedrängt wurde, je mehr sie versuchte, die Berichterstattung über Nazivorfälle mit dem Hinweis darauf abzuwehren, dass Zossen ja noch weit mehr zu bieten habe, worüber sich doch auch positiv berichten ließe.
In beiden Orten ist ein Prozess in Gang gekommen, bei dem Kommunikation und Kooperation eine wichtige Rolle spielen. In beiden Orten finden zahlreiche Projekte statt, über die eine neue Art Gemeinschaft ihren Anfang haben kann. Doch der Weg ist sehr lang. In Zossen ist das Ziel, dass alle Beteiligten die Notwendigkeit einer Kooperation der Zivilgesellschaft anerkennen und dass daraus niemand ausgeschlossen bleiben muss, der sich für demokratische Kultur in seiner jeweiligen Rolle engagiert. In der Region Vorpommern ist das Ziel, mehr Selbstorganisation bei den Bürger*innen zu fördern und weniger Fixierung auf den Staat, der alles zu regeln hat. Dies ist eines der Grundprobleme in der Region, die zu langer Passivität geführt und damit den Nazis Erfolge ermöglicht hat. Die Menschen in beiden Regionen haben Grund stolz zu sein, auf das, was sie erreicht haben. Daraus auch Selbstbewusstsein zu schöpfen, ist sehr wichtig. Denn nur mit selbstbewusster Souveränität können die nächsten Schritte in die Kommune der Zukunft unternommen werden, in der kein Platz mehr ist für ein Klima der Angst, weil sich Menschen von Nazis bedroht sehen. Wahrscheinlich verschwinden Rechtsextreme nicht einfach. Doch in den Kommunen im ländlichen Raum sollte ihnen klar gemacht werden, dass es hier einen Konsens gibt, der sich klar gegen jede Art von Hass auf Minderheiten wendet. Dabei müssen alle mitmachen. Was wir brauchen, ist eben eine Region in Aktion.
Das vollständige Handbuch kann hier heruntergeladen werden.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).