Am 3. Oktober 1999 beschädigten Unbekannte auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee 103 Grabsteine. Der Vorfall erregte kaum Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, lediglich regionale Medien berichteten, während die überregionalen Medien die Tat schlichtweg ignorierten. Dieser Mangel an Interesse ist gewiss ein Zeichen für eine schleichende Gewöhnung an antisemitische Handlungen: dass jüdische Friedhöfe geschändet werden, gehört in Deutschland zum Alltag nach 1945 und scheint den Medien kaum noch eine Schlagzeile wert. Doch es gibt immer wieder Menschen, die sich nicht daran gewöhnen wollen – und aktiv werden. So auch der Steinmetz Otmar Kagerer aus Berlin-Marzahn. Er und acht weitere Berliner Kollegen zeigten Solidarität und Hilfsbereitschaft. Sie reparierten über 100 beschädigte Grabsteine auf dem Weißenseer Friedhof unentgeltlich und stellten sie wieder auf. Diese Aktion war gar nicht als große Tat gedacht, sondern als eine ganz normale Nachbarschaftshilfe.
Den Stein des Nachdenkens ins Rollen bringen
Als eine Berliner Tageszeitung über die Hilfsaktion berichtete, mit Otmar Kagerer deutlich im Bild zu erkennen, erhielten er und seine Frau anonyme Drohanrufe: Ein „Schwein“ sei er, sagten die Stimmen, eine „Judensau“, die man erschießen müsse. Schließlich verwüsteten Unbekannte am Abend des 19. November 1999 sein Lager in Berlin-Marzahn und demolierten 150 Grabsteine nach dem gleichen Muster wie auf dem Jüdischen Friedhof. Der angerichtete Sachschaden von umgerechnet 30.000 Euro drohte den Steinmetz in den Ruin zu treiben. Ende 1999 wurde ein Rentner aus Berlin-Schöneberg verhaftet. Er hatte zugegeben, die Kagerers mehrere Male am Telefon anonym bedroht zu haben. Er wird allerdings nicht mit dem Anschlag auf das Lager in Verbindung gebracht. Von den Tätern fehlt immer noch jede Spur.
Die Amadeu Antonio Stiftung, die erst wenige Monate zuvor gegründet worden war, startete damals einen Spendenaufruf für den engagierten Steinmetz und machte den Fall öffentlich. In mehreren Zeitungen erschienen Artikel über die Schändungen und die Arbeit Otmar Kagerers. Die Aktion verdeutlicht, dass sich eine klare Positionierung gegen Antisemitismus lohnt: ist der Stein des Nachdenkens erst einmal ins Rollen gebracht, finden sich häufig viele Menschen, die ein klares Zeichen setzen und sich mit den Opfern solidarisieren. Am Ende wurde weit mehr Geld gespendet als für die Instandsetzung der Marzahner Filiale nötig war. Otmar Kagerer schlug vor, mit der übriggebliebenen Summe einen Fonds für Opfer rechtsextremer Gewalt einzurichten. Die Amadeu Antonio Stiftung konnte über mehrere Jahre mit diesem Fonds Menschen helfen, die von Rechtsextremen zusammengeschlagen wurden oder deren Existenz beispielsweise durch das Abbrennen ihres Imbisswagens bedroht war. Mittlerweile hat die Stiftung den Opferfonds Cura gegründet: Er hilft unbürokratisch all jenen, die von rechtsextremen Übergriffen betroffen sind.
Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).