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Whataboutism „Aber die Opfer vom Breitscheidplatz!“

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Wer übrigens auf Twitter #saytheirnames und #breitscheidplatz zusammen eingibt, findet all die ernst gemeinten Posts zum Gedenken an die Opfer vom Breitscheidplatz - und zwar am 19.12.2020, am Jahrestag dieses Attentats. (Quelle: Belltower.news/SR)

Vor einem Jahr, als am 19.02.2020 ein rassistischer, verschwörungsideologischer Täter neun Menschen erschoss, weil sie nicht in sein rechtsextremes Weltbild passten, war das Entsetzen in Deutschland groß und der letzte rechtsextrem motivierte Terroranschlag leider noch nicht lang vorbei: Erst im Oktober 2019 hatte der Attentäter von Halle versucht, ein Massaker unter Jüdinnen und Juden und unter von ihm als Migranten verstandenen Menschen anzurichten – und zwei Passant*innen erschossen. Deshalb waren auch die Debatten zum Umgang noch so schmerzhaft präsent: Rechtsterroristische Attentäter begehen Botschaftstaten – die also nicht nur die Opfer treffen sollen, sondern alle in Angst versetzten, die auch zu dieser Gruppe gehören. Und die Täter wollen sich mit der Tat einen Namen machen, der Anonymität der Imageboards (und ihres Lebens) entkommen, in rechtsterroristisch interessierten Kreisen als „Heilige“ verehrt werden. Also, wie mit einer Tat umgehen? Den Namen des Täters medial nicht nennen. Den „Heiligen“-Status bewusst verweigern. Und stattdessen darauf schauen, was der rechtsextreme Hass anrichtet: Er kostet unschuldige Menschen das Leben. Sie sind Kinder, Eltern, Freund*innen, Kolleg*innen, Nachbar*innen. An sie sollten wir uns erinnern, nicht an den Täter.

Aus diesen Überlegungen entstand nach dem Attentat von Hanau der Hashtag und die Idee von #saytheirnames: Erinnern an die Opfer des rechtsterroristischen Attentats, an ihre Namen, an ihre Gesichter, an ihr Leben, an ihre Träume. Damit wird auch immer wieder vor Augen geführt, dass es sich um ein rassistisch motiviertes Attentat handelt. Dass der Rassismus in der Gesellschaft schlimmstenfalls tödliche Folgen hat – und dass wir uns deshalb umso mehr einsetzen müssen, dass Rassismus in der Gesellschaft geächtet wird, keine Zustimmung erfährt und erkannt und bearbeitet wird.

Wurde ein solches Gedenken an die Opfer zuvor so praktiziert? Leider nein. Deutschland hat unzählige Opfer rechtsextremer und rassistischer Gewalt vergessen – vielleicht sogar fast alle, wenn wir ehrlich sind (wie viele können Sie spontan aufzählen?). Auch wenn es Betroffeneninitiativen gibt, und Opferberatungsstellen und Seiten wie belltower.news, die versuchen, die Erinnerung wach zu halten: Wir haben als Gesellschaft oft einen täterzentrierten Blick, beschäftigen uns mit den Motiven und Netzwerken des Täters, vielleicht seinen „Manifesten“ und Familienverhältnissen. Das externalisiert die Tat, lässt sie als Tat einen vermeintlich „Einzelnen“ (sind sie nie) erscheinen, und macht es leichter zu verdrängen, dass rechtsterroristische Attentate auch etwas mit unserer Gesellschaft zu tun haben, mit dem Rassismus in unserer Gesellschaft, der Täter motiviert, und schließlich auch mit uns selbst.

Vergessen wir auch die Opfer anderer Gewalttaten, und die Opfer islamistischer Attentate? Ja, die vergessen wir auch, zumindest, wenn diese nicht prominent oder auf andere Weise besonders sind, wie Kinder etwa. Sollten wir uns auch lieber an die Namen der Opfer des islamistischen Attentates auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz 2016 erinnern als an dem Namen des Täters? Ja, das wäre grundsätzlich ein Ansatz, denn auch ein islamistischer Attentäter begeht eine Botschaftstat und strebt nach Ruhm in seinem Bezugsraum. Wir können aus dem Umgang mit dem Attentat von Hanau etwas lernen, dass nicht nur für rechtsterroristische Attentate gilt. Auch die Angehörigen der Opfer vom Breitscheidplatz schmerzt es, wenn die Medien und die Gesellschaft nur auf den Täter blicken. Wir sollten in jedem Fall versuchen, den Tätern möglichst wenig Genugtuung und den Opfern möglichst viel Würdigung und uns Raum zum Gedenken zu geben.

Aber ist es das, was Menschen meinen, wenn sie am ersten Jahrestags des Attentats von Hanau auf Social Media unter jeden verfügbaren Post des Gedenkens schreiben „Schön, dass ihr an die Opfer von Hanau erinnert. Aber was ist mit den Opfern vom Breitscheidplatz?“ Handelt es sich um ein kritisches Betrachten, man müsse am Jahrestag des Attentats auf dem Breitscheidplatz auch wieder einmal mehr der Opfer gedenken, der zwölf Menschen aus sechs Nationen, die am 19.12.2016 starben, und der 55 Menschen, die verletzt wurden? Es ist zu befürchten, dass das nicht der Grund ist. Sonst würden die Kommentator*innen diesen Diskurs ja rund um den 19.12. führen (oder an irgendeinem anderen Tag, an dem in Deutschland gerade keiner Terrorattacke gedacht wird), oder die Menschen, die das umtreibt, würden vielleicht ein eigenes Postings dazu schreiben, sich aber nicht in das Gedenken anderer Menschen drängen.

Wer dies aber am Jahrestag des Attentats von Hanau postet, und zwar am liebsten unter Gedenk-Posts oder in Gedenk-Threads – und es waren so viele Menschen, dass der Hashtag #breitscheidplatz am 19.02. etwa auf Twitter trendete in Deutschland –, der hat vor allem eines im Sinn, und das ist „Whataboutism“. So nennt sich die sprachliche Technik, von einem Thema abzulenken, indem man ein anderes, scheinbar verwandtes Thema eröffnet, um die ursprüngliche Diskussion zu (zer-)stören. Sie gedenken den Opfern rassistischer und rechtsextremer Gewalt und sprechen anlässlich dessen auch über Rassismus und Rechtsextremismus in der Gesellschaft? Da kommt ein „Warum sprechen Sie nicht über die Opfer islamistischer Gewalt?“, und es kommt mit dem inhärenten Vorwurf, über Opfer rechtsextremer Gewalt werde immer gesprochen und über Opfer islamistischer Gewalt werde niemals gesprochen, und diese Störstrategie ist nicht nur unangenehm wegen der imaginierten Opferkonkurrenz, die hier aufgemacht wird, sie ist auch rassistisch, weil sie sich gar nicht um die Opfer schert, sondern vielmehr suggeriert: „Immer reden wir über Deutsche, wenn sie Migrant*innen umbringen, aber nie reden wir über Migrant*innen, die Deutsche umbringen“.

Das stimmt nicht einmal in der Welt rechtspopulistischer Desinformationskanäle im Internet, aber der Vorwurf ist als Störstrategie hervorragend geeignet, denn er führt sofort zum Hinterfragen, ob da etwa daran sein könne, und lenkt den Diskurs weg von der Frage, was wir tun können, um rassistische Attentate zu verhindern, und hinein in eine Welt ebenfalls abschweifender und bisweilen selbst fragwürdiger Argumentationslinien. Hat nicht etwa der Täter von Hanau fast ausschließlich gebürtige Deutsche ermordet, während der Attentäter von Berlin wiederum auch viele Nicht-Deutsche umgebracht hat, die als Tourist*innen auf dem Weihnachtsmarkt waren? Beide haben auch Gemeinsamkeiten, denn sie haben Menschen aufgrund eines ideologiegetriebenen Weltbildes attackiert, dass die Gleichwertigkeit aller Menschen nicht akzeptiert und Gewalt als politisches Problemlösungsmittel sieht… Aber wenn wir anfangen, so darüber nachzudenken, schweifen wir schon ab und gehen wir den Whataboutismus-Störer*innen schon auf den Leim.

Deshalb: Es ist wichtig, den Opfern einer rechtsterroristischen Tat zu gedenken. Dadurch wertet man nicht die Opfer anderer terroristischer Taten ab, sondern gedenkt einfach nur den Opfern dieser Tat. Genauso können wir den Opfern anderer terroristischer Taten gedenken. Wenn es Menschen gibt, die der Meinung sind, dies geschehe nicht genug, können sie sich dafür engagieren, dass das Gedenken größer wird, oder mehr gesellschaftlichen Einfluss hat, wenn sie den vermissen. Wer aber am Jahrestag eines rechtsterroristischen Attentats das Gedenken stört durch rassistisch motivierte Whataboutism-Kommentare, der ist vor allem ein Mensch ohne viel Empathie und Anstand, der mehr oder weniger geschickt versucht, eine Debatte über Rassismus durch rassistische Unterstellungen zum Schweigen zu bringen, und sich nicht einmal scheut, dafür die Opfer eines Attentats zu instrumentalisieren.

Was übrigens die Opfer des Attentats von Hanau nicht verdient haben und die vom Breitscheidplatz auch nicht.

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