Die Vielzahl an unterschiedlichen Narrativen, die von menschenfeindlichen Seiten im Internet verbreitet werden, wirkt auf den ersten Blick zumeist unzusammenhängend. Eine Systematisierung ermöglicht jedoch ein Modell des Populismus. Der Begriff ist als Beschreibung politischer Phänomene in den Sozialwissenschaften zwar umstritten. Uneinigkeit besteht vor allem hinsichtlich der Frage, ob es sich um eine „dünne“ Ideologie oder um ein diskursives Mittel anderer Ideologien handelt.
Dennoch eignet er sich hervorragend zur Beschreibung von Gemeinsamkeiten verschiedener Ausdrucksformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und der Besonderheiten des Antisemitismus. Allgemein lässt sich feststellen, dass Populismus von anderen Ideologien abhängig ist und in seiner Agitation zwei unterschiedliche Orientierungsebenen für Feindbeschreibungen bietet: eine horizontale (gegen die da draußen) und eine vertikale (gegen die da oben). Die rechtspopulistische Argumentation hebt insbesondere auf die Abgrenzung nach außen ab, da die Hervorhebung und Exklusion des fremden Äußeren an die essentialistischen ideologischen Grundpfeiler der politischen extremen Rechten anschließt. Jene, die der eigenen, als homogen stilisierten Gemeinschaft nicht angehören, werden als wesenhaft verschieden deklariert. Individuen wären demnach maßgeblich und unveränderbar von vermeintlich natürlichen Eigenschaften wie ihrer „Rasse“ oder Kultur bestimmt, was ein Zusammenleben mit anderen unmöglich machen soll. Allerdings wird diesem fremden Äußeren eine Existenzberechtigung zugesprochen, solange es auf dem eigenen Territorium verbleibt („Ethnopluralismus„).
Anders verhält es sich auf der vertikalen Orientierungsebene: Sie trennt in der einfachsten Form ein als homogen angenommenes Volk bzw. eine Gemeinschaft des Volkes von den dagegen konstruierten interessenorientierten, parasitären Eliten. Die Elite stellt in dieser Vorstellung einen inneren Feind dar, der entweder Abbitte leisten muss, um in der Gemeinschaft des Volkes aufzugehen, oder zu eliminieren sei. Für die Eliten gibt es kein Territorium, sie müssen „weg „.
Dem Antisemitismus kommt in diesem Zusammenhang traditionell eine besondere Rolle zu. Er kann auf beiden Ebenen, horizontal wie vertikal, zur Feindbildkonstruktion dienen. Als Fremde und vermeintliche Feinde im Inneren, deren Loyalität zweifelhaft sei, dienen sie wie andere Gruppen auch (etwa Muslime). Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, dass Jüdinnen und Juden nicht nur als das Andere/Fremde wahrgenommen werden, sondern in tradierten Stereotypen als übergreifendes „Übel der Welt“, das Böse schlechthin. Damit werden sie ebenfalls für alle negativ empfundenen Seiten moderner Gesellschaften verantwortlich gemacht, anders als andere Minderheiten oder äußere „Feindgruppen“: „Niemand käme auf die Idee, dem Islam die Schuld an Fortschritt, Säkularisierung, Frauenemanzipation, Kulturindustrie, Marxismus und Liberalismus zu geben, also an allen von der Rechten als schädlich reklamierten Begleiterscheinungen der universalistisch ausgerichteten Moderne.“ Um solche Umwälzungen durchsetzen zu können, bedarf es Macht bzw. mächtiger Position innerhalb von Gesellschaften. Diese reelle Macht wird – im Gegensatz zur potentiellen, zu erweckenden Macht des Volkes – bei den Eliten verortet. Und genau hier befindet sich die Schnittstelle zwischen Antisemitismus, Verschwörungsideologien und populistischen Feindbildkonstruktionen. Jüdinnen und Juden werden vornehmlich auf der vertikalen Ebene als Feindinnen und Feinde beschrieben: Sie kontrollieren vermeintlich die Wirtschaft, die Politik, die Medien – ja: die ganze Welt. Von daher verwundert es auch nicht, dass stets jüdische oder vermeintlich jüdische Namen verbreitet werden, wenn es darum geht, die „Puppenspieler “ konkret zu benennen: Rockefeller, Rothschild, Soros.
Konstruktionen von Volk und Gemeinschaft
Die nachfolgend analysierten Narrative sind in ihrem Kern anti-universalistisch und anti-pluralistisch. Rechte werden nicht dem Individuum zugesprochen, sondern homogenen Volks-Konstruktionen. Das Individuum hat sich dem zum Gemeinwohl verklärten „Volkswillen“ unterzuordnen. Diese Idee des homogenen Volkes blendet die Vielfalt von religiösen, (sub)kulturellen, sexuellen, politischen, ruralen und urbanen Identitäten und Lebensvorstellungen innerhalb der Gesellschaft aus.
Die Errungenschaft der modernen Demokratie ist, dass all diese unterschiedlichen Gruppen und Individuen eine eigene Stimme haben. Diese Errungenschaft der Demokratie ist zugleich ihre Herausforderung. Innerhalb des „Volkes“ hingegen wird davon ausgegangen, dass es keine Widersprüche gäbe, sondern ausschließlich eine Meinung, ein Interesse vorherrschen würde. Moderner Populismus richtet sich gegen die Herausforderungen, negativen Seiten und Widersprüche sich modernisierender bzw. moderner Gesellschaften. Anstatt eine Analyse der abstrakten Vermittlungsprozesse gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse vorzunehmen, reduzieren Populist_innen diese auf eine Identifikation vermeintlicher Schuldiger. Komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge werden auf vereinfachte Dichotomien (Gut-Böse, Freund-Feind, Herrscher-Beherrschte usw.) heruntergebrochen. Die Sehnsucht nach widerspruchsfreier Theorie und Praxis, die sich im Erfolg rechtspopulistischer Bewegungen Bahn bricht, befriedigt sich in der Idee einer homogenen Volksgemeinschaft, die auf jede gesellschaftliche Verunsicherung ad hoc und einmütig antworten kann.
Verschwörungsideologien als integrative Klammer
Ein besonders dominantes Narrativ, das sich in allen deutschen rechtspopulistischen Diskursen finden lässt, ist die Erzählung über den drohenden Untergang des deutschen Volks. Je nachdem, von welcher Strömung dieses Szenario kolportiert wird, variieren die Erklärungsmuster mal mehr, mal weniger. Weit verbreitet ist die Vorstellung eines „Genozids“ durch „Überfremdung“ bzw. den „großen Austausch“ (Identitäre Bewegung).
Während manche Narrative nur auf der horizontalen Ebene das Fremde vom Eigenen trennen, verbinden Narrative wie „Migrationswaffe“ oder „großer Austausch“ beide Ebenen miteinander: Demnach hege beispielsweise die sogenannte „Elite “ den Plan, durch provozierte oder inszenierte Konfliktlagen in der Welt eine Masseneinwanderung nach Deutschland zu verursachen. Das Ziel sei die Zerstörung der deutschen Kultur und die Ausrottung ihrer Träger_innen. Denn eine heterogene, „gespaltene“ Gesellschaft sei leichter zu beherrschen – so die populistische Erklärung. „Multikulti “ sei also letztlich ein Trick der Herrschenden, sich die Welt zu unterwerfen. (Diese Idee erinnert nicht zufällig an die NS-Ideologie der „Zersetzung des Volkskörpers“, die sowohl antisemitische, rassistische und homosexuellenfeindliche Aspekte bediente als auch politisch links Engagierte als „Volksschädlinge“ diffamierte.)
Daraus leiten Rechtspopulist_innen den Appell ab, sich zu einem homogenen Volkskörper zu formieren, um sich gemeinsam dem Kampf gegen diese imaginierte Bedrohung zu stellen. Ein solches homogenes Volk, das gemeinsam einen Willen vertritt, wendet sich gegen die pluralistische, liberale Demokratie und zielt schließlich darauf, das Individuum in der Gemeinschaft aufzulösen. Verschwörungsideologische Narrative bieten Populist_innen und ihren Anhänger_innen eine Erklärung für die Existenz eines gefühlten Bösen in der Welt und eine Identität als Opfer einer „volksfeindlichen “ Weltverschwörung.
Es verwundert nicht, dass in diesen Zusammenhängen auch stets codiert und offen antisemitische Stereotype reproduziert werden. Der Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“ ist im kulturellen Gedächtnis moderner Gesellschaften noch immer verankert. Und er bedient beide Orientierungsebenen – die horizontale, indem er Juden als andere, nicht-Deutsche ausgrenzt, und die vertikale, indem er sie als machtvolle globale Elite imaginiert. Die im Internet weit verbreiteten fiktiven und antisemitischen Protokolle der Weisen von Zion haben all diese Narrative zusammengeführt: „Jüdische Weltverschwörung“, Negative Seiten des Kapitalismus, Demokratie als Täuschung etc. Selbst wenn nur einzelne Narrative aus diesem Bündel aufgegriffen werden, lassen sie sich mithilfe der gesellschaftlich tradierten antisemitischen Stereotype immer wieder auf „die Juden“ als grundsätzlich Verantwortliche zurückführen.
AUS DER BROSCHÜRE „TOXISCHE NARRATIVE“ AUF BELLTOWER.NEWS
Neue Broschüre: „Toxische Narrative – Monitoring rechts-alternativer Akteure“Wie mit „Narrativen“ rechtspopulistische Politik gemacht wirdWie die digitale Öffentlichkeit durch rechts-alternative Medienstrategien herausgefordert wird„Toxische Narrative“: Wie sie wirken und warum wir uns damit beschäftigen müssen