Alltag läuft mal mehr, mal weniger routiniert. Alltägliches wird bewältigt, Alltag ist bekannt, vertraut und sicher, vielleicht sogar berechenbar, ein tägliches Einerlei, ein gleichförmiger Ablauf. Er ist für die meisten also vorhersehbar, struktur- und möglicherweise haltgebend. Etwas, was in der Schnelligkeit der Welt für Klarheit und Berechenbarkeit sorgen kann, manchmal vielleicht sogar Langeweile auslöst, unaufgeregt ist, vielleicht auch monoton. So würden wahrscheinlich viele Menschen Alltag beschreiben, und das ist ein Privileg.
Die befragten Frauen in der Studie verfügen nicht über dieses Privileg. Alltag besteht für sie aus kraftzehrenden Herausforderungen. Für sie lauern im Alltag zahlreiche Situationen, die diesen unvorhersehbar und bedrohlich machen. Von einem Moment zum nächsten werden sie durch rassistische Kommentare und Beleidigungen aus ihrem vermeintlichen Alltag herausgerissen. Die Studie zeigt, dass Menschen mit (familiärer) Migrations- und Fluchtbiografie sich in ihrem Alltag in MV mit Anfeindungen und Bedrohungen auseinandersetzen müssen. Befragte Frauen berichten von Situationen, in denen sie unbeschwert Alltägliches bewältigen und von einem Augenblick zum nächsten Routinen erschüttert werden.
„Du läufst durch die Straße, Schnee überall, alles ist wunderschön, alle sind draußen und machen Fotos. Du siehst nur lächelnde Gesichter, und dann läuft ein Mann hinter uns und sagt: ‚Guck mal, die Kanaken.‘“ (Frau C, 00:40:57)
Personen, die Rassismen produzieren, erwirken mit eben diesen, dass betroffene Personen eine permanente Unsicherheit erleiden müssen. Diese Strategie ist sehr wirkmächtig. Die befragten Frauen geben an, dass sie sich dadurch in ihrem Alltagserleben extrem eingeschränkt fühlen. Sie berichten von zahlreichen Bedrohungsszenarien, die ihnen den Zugang zum öffentlichen Raum verwehren sollen. Diese Angstgehört für sie zum Alltag dazu und wird fast beiläufig in die Tagesplanung integriert: Wo gehe ich Lebensmittel einkaufen? An welcher Haltestelle steige ich aus? Auf welchem Spielplatz können meine Kinder spielen? Der Besuch von Spielplätzen oder Einkäufe werden für sie zur Gefahr. Personen, die Rassismen produzieren, setzen Beleidigungen und Bedrohungen ein, um eine Umgebung der Angst und Gefahr herzustellen. So berichtet eine Mutter von einer besonders gefährlichen Begebenheit:
„Es war ein schöner, sonniger Tag. Die Kinder spielten Fußball. Dann kam eine Gruppe von Jugendlichen, die waren älter als meine Kinder. Auf einmal fingen sie an, die Kleinen zu bedrohen: ‚Ihr müsst zurück, ihr Scheißausländer. Ihr müsst zurück in eure Heimat, ihr habt hier nichts zu suchen, wir brauchen euch nicht hier.‘ Von diesem Erlebnis haben mir meine Kinder zunächst nichts berichtet. Am nächsten Tag gingen sie wieder Fußball spielen. Da wurde es noch schlimmer: Sie wollten da nur spielen und wurden sogar mit einem Auto verfolgt. Sie wurden beinah überfahren! Eine Stunde lang sind diese jungen Menschen mit einem Auto hinter meinen Kindern hergefahren, meine Kinder sind weggerannt und die immer hinterher! Als sie nach Hause kamen, waren sie fast ohnmächtig, sie konnten nicht mehr, sie konnten kein Wort sprechen vor Angst.“ (Frau T, 00:40:59)
Die befragten Frauen berichten, dass sie kaum am öffentlichen Leben teilnehmen können, ohne sich einer permanenten Bedrohungssituation auszusetzen. Zu ihrem Alltag gehört es, ständig durch direkte rassistische Beleidigungen oder durch subtile, fast unterschwellige Gebärden wie abschätzige Blicke konfrontiert zu werden. So wurde eine Frau beispielsweise beim Einkauf in der Drogerie von einer Verkäuferin verfolgt, weil diese ihr unterstellte, eine potenzielle Diebin zu sein. Allein die Tatsache, dass die betroffene Fraueinen Hijab (ein Kopftuch) trug, nahm die Verkäuferin zum Anlass, ihr eine kriminelle Absicht zu unterstellen (Frau T, 00:02:28). Das ist eine rassistische Strategie, um die betroffene Person zu verunsichern und als gefährlich zu markieren. Andere Frauen, die Hijab tragen, berichten ebenso darüber, dass sie auf offener Straße ausgelacht oder beleidigt werden. Die Frauen geben an, dass sie nur in seltenen Fällen am öffentlichen Leben teilnehmen können, ohne bewertet oder beleidigt zu werden. Sie schildern, dass ihnen Beleidigungen hinterhergerufen werden, sie bespuckt werden und mit rassistischen Fragen konfrontiert sind. Sie können sich nicht frei oder unbeschwert bewegen – der Alltag wird zum Spießrutenlauf.
Soziale Distanz und Ausgrenzungserfahrungen führen zu Leidensdruck
Neben direkten rassistischen Beleidigungen und Bedrohungen sind Ignoranz und Ablehnung ständige Wegbegleiter der befragten Frauen. Sie berichten darüber, dass sie teilweise ignoriert werden, wenn sie Auskunft erbitten oder eine Frage haben. Viele Frauen berichten, dass der erlebte Alltag in MV damit verbunden ist, „zur Anderen, zur Fremden“ gemacht zu werden. Sie erleben, dass sie nicht zur Mehrheit dazugehören und aus dem sozialen Umfeld ausgeschlossen werden, egal, wie sehr sich individuell anstrengen. Freundschaften zu schließen oder Bekanntschaften zu machen, wird für sie zur enormen Herausforderung. Durch die permanenten Ausgrenzungserfahrungen entsteht eine soziale Distanz. Diese Distanz mindert das Vertrauen und protegiert Fremdheit. Befragte Frauen berichten, dass sie sich auf ihr Anderssein reduziert fühlen, in Gesprächen geht es oft nur darum, dieses konstruierte Fremdsein aufrecht zu erhalten.
„[…], aber was halt noch so alltäglich war und worüber ich heute auch erst reflektiere, ist halt so auch unter Freunden: dass man halt von deren Eltern gehört hat: „Ach, guck mal, da kommt dann ja unsere Milchschokolade oder so.“ Oder dass man in diesen Teenie-Zeiten, da haben wir uns irgendwelche komischen Namen immer gegeben, ich war immer Brownie. Also wo ich heute auch, also so ich weiß ja, es war nicht böse gemeint und sie haben auch nicht drüber nachgedacht. Und erst heute denke ich mir so, um Gottes Willen, was war denn das eigentlich auch so, nicht? Genau. Also das ist halt schon, irgendwie hat diese Hautfarbe dann trotzdem immer nochmal eine Rolle gespielt.“(Frau A, 00:34:22)
Für Personen der Mehrheitsgesellschaft ist das schwer nachzuvollziehen, sie deuten bspw. Fragen zur Herkunft von Menschen als positive Neugier oder Interesse. Allerdings sprechen diese Praktiken eher dafür, dass Lebenswelten von Frauen mit einer (familiären) Migrations- oder Fluchtbiografie gänzlich unbekannt sind und es wenig Interesse gibt, Gemeinsamkeiten zwischen Personen der Mehrheitsgesellschaft und Personen, die aufgrund ihrer Herkunft als „anders“ markiert werden, zu elaborieren. Die befragten Frauen berichten darüber, dass sie einen Leidensdruck entwickelt haben, ständig diesen Fragen ausgesetzt zu sein, weil diese ihnen eine Zugehörigkeit absprechen. Sie werden so auf Distanz gehalten und gleichzeitig entwertet:
„Ich habe in vielen verschiedenen Bundesländern gelebt, ich habe in einem sehr internationalen Kontext gearbeitet, und ich war mir über meinen eigenen Migrationshintergrund tatsächlich nie bewusst. Der ist mir erst in Mecklenburg-Vorpommern bewusst geworden. Durch diese ständige Konfrontation mit einem Nachnamen, der für viele arabisch, nordafrikanisch klingt, aussieht, das ist mir noch nie so passiert wie in Mecklenburg-Vorpommern. Das muss ich ganz, ganz deutlich sagen.“ (Frau P, 00:05:39)
„Ich habe in verschiedenen Orten in Deutschland gelebt, aber in MV wurde ich zur Migrantin. Auf einmal war dieses Wort präsent in meinem Leben. Dieses Wort hatte früher überhaupt keine Rolle gespielt. Ich war ein Mensch, hier bin ich nur Migrantin. […] es ist immer noch für mich sehr schwierig, Freunde zu finden, Bekanntschaften zu machen. Ich habe immer noch keine Freunde. Aber ich habe mich mittlerweile schon abgefunden.“ (Frau E, 00:02:09)
„Viele Menschen sagen zu mir: ‚Ihr kommt zu uns, und dann seid ihr noch schlecht und sitzt zu Hause, ihr macht nix.‘ Obwohl das gar nicht stimmt. Gar nicht stimmt! Ich kenne niemanden, der zu Hause sitzt und nix macht. Ich kenne niemanden bis jetzt. Alle in Stralsund zum Beispiel arbeiten, machen eine Ausbildung, gehen zur Schule oder sogar zur Universität.“ (Frau K, 00:12:51)
Die Interviews zeigen auf, dass diese Distanz für Betroffene nur schwer zu überwinden ist. Die Anstrengung dafür liegt allein auf den Schultern der Frauen: Sie müssen sich ständig offenbaren, rechtfertigen, erklären und verteidigen. Ihr Alltag ist davon bestimmt, Wege und Strategien für einen möglichen Umgang zu finden. Sei es die Akzeptanz, dass sie einfach nicht dazugehören sollen, oder eine Überangepasstheit, um ja nicht aufzufallen oder anzuecken. Die soziale Distanz erfüllt eine wichtige Funktion für die Täter*innen: Sie ist nötig für die Abwertung und die Konstruktion „der Anderen“. Je mehr Informationen über das Fremde vorliegen, über die Parameter, die Menschen unterscheiden, desto mehr kann die Distanz gefestigt werden. Die Konstruktion des Anderen spielt somit eine große Rolle in der Reproduktion stereotyper Vorstellungen. Die Ursache für solches Verhalten sind die andauernden Grenzziehungen zwischen dem sogenannten „Wir“ und den „Anderen“. Um die Hierarchie zwischen „wir“ und „ihr“ aufrechtzuerhalten, müssen Grenzen immer wieder gezogen und bestätigt werden. So werden die befragten Frauen permanent auf ihre Fremdheit hingewiesen, egal, was sie tun, und egal, wie sehr sie sich um Zugehörigkeit bemühen:
„Nach all den Jahren, die ich nun schon hier lebe: Mein Akzent bleibt nach wie vor, ich werde ihn nicht los. Die Menschen weisen mich immer und immer wieder darauf hin. Egal, wie sehr ich es versuche, ich gehöre nie dazu.“ (Frau I, 00:41:19)
Alltagsrassismus, das fühlt sich an wie kleine unvorhersehbare und unerwartete Nadelstiche, die andauernd piksen – diese Metapher formulierte eine der Interviewpartnerinnen. Mikroaggressionen, die den Alltag von Betroffenen torpedieren: kurze und alltägliche Demütigungen, in der Kommunikation und im Verhalten, die entweder absichtlich oder unabsichtlich feindliche, abwertende oder negative rassistische Kränkungen und Beleidigungen beinhalten und stets Gefahr laufen, unentdeckt zu bleiben und verharmlost zu werden. Die Gefahr dieser Nadelstiche liegt darin, dass sie schwer zu erkennen sind und oft im Unsichtbaren bleiben, nicht nur für die Ausführenden, sondern auch für die Frauen. Sie finden unter Umständen eindeutig identifizierbaren Rassismus leichter zu verarbeiten als diese kleinen, aber schmerzvollen Verletzungen, die weniger eindeutig zu benennen sind.
Die Schwierigkeit, eine konkrete Klassifizierung und Eliminierung von alltagsrassistischer Praxis herbeizuführen und zu etablieren, wird ebenfalls in den Erfahrungsberichten der Frauen deutlich. Sie müssen permanent Ressourcen aufbringen, um rassistische Behauptungen zu entkräften.