Eine globale Krise bezeichnet einen Zustand, der die ganze Welt aus den Angeln gehoben zu haben scheint. Was zuvor als selbstverständlich und sicher erachtet wurde, ist plötzlich gefährdet oder existiert möglicherweise gar nicht mehr. Es ist unklar, was die Zukunft bringen wird und ob die Vorstellung von Normalität, die vor der Krise etabliert war, sich auch nach der Krise wieder einstellen wird. Sich in der Welt oder in seinem eigenen Leben zurecht zu finden, ist nicht immer und für jede*n einfach. Ob man sich dieser Herausforderung gewachsen oder von ihr überfordert fühlt, wird durch unterschiedliche Fak-toren beeinflusst. Einige dieser Faktoren sind struktureller Art, wie z.B. Milieuzugehörigkeit, Geschlechtsidentität oder Nationalität. Andere wiederum durch persönliche Faktoren bestimmt, wie z.B. ein stabiles Selbstwertgefühl oder die Fähigkeit, Ungewissheit und Widersprüche auszuhalten (Ambiguitätstoleranz), und sich selbst zu hinterfragen. Menschen, die über gute innere und äußere Ressourcen verfügen, können in der Regel auch in Krisenzeiten besser mit Verunsicherungen, Risiken und Problemstellungen umgehen. Die Corona-Pandemie und ihre Folgen stellen für Menschen mit einem Mangel an Ambiguitätstoleranz eine besondere Herausforderung dar.
Wer Widersprüche schlecht aushält, fühlt sich von der Uneindeutigkeit der gesellschaftlichen Lage stark ver-unsichert, möglicherweise sogar provoziert. Solche Menschen neigen dazu, eine Krisenbewältigung in Verschwörungserzählungen zu suchen. Denn diese unterteilen die Welt in ein stark vereinfachtes Gut/Böse- bzw. Freund/Feind-Schema. Dadurch geben sie den Dingen vermeintlich einen leicht verstehbaren Sinn und ihren Anhänger*innen so ein Gefühl der Kontrolle. Verschwörungsideolog*innen sehen sich als diejenigen, die „wissen, was wirklich gespielt wird“ und daher die wichtige Aufgabe inne haben, andere vor „den bösen Verschwörern“ zu retten. Die Verschwörer werden stets als das absolut Böse beschrieben, gegen das es sich zu wehren gilt, ansonsten drohe der Untergang. Diese apokalypti-sche Vorstellung eines Kampfes zwischen Gut und Böse ist kennzeichnend für Verschwörungsideologien und mach sie zugleich so gefährlich. Denn sie fantasieren eine Notwehrsituation herbei, die letztlich auch Gewalt legitimiert, so lange sie im Sinne des Kampfes gegen „die bösen Verschwörer“ angewandt wird.
Die Handreichung „Wissen…“ möchte einen Beitrag dazu leisten, Verschwörungsideologien zu erkennen und ihnen gegenüber handlungsfähig zu bleiben. Zudem möchte sie dabei helfen, sich von wechselnden Informationen und Maßnahmen nicht entmutigen zu lassen. Sie möchte nachvollziehbar machen, dass eine globale Pandemie eine wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Herausforderung darstellt, die auch Irr- und Umwege beinhaltet. Wenig ist sicher in diesen Zeiten, denn der beste Weg zur Bewältigung der Krise, muss erst noch gefunden werden. Wir können dazu beitragen, indem wir gemeinsam daran arbeiten, dass Vernunft und Solidarität keine Opfer der Krise werden.
Kritik oder Verschwörungsideologie?
Moderne Gesellschaften sind soziale Gebilde, die das Zusammenleben vieler unterschiedlicher Menschen miteinander organisieren. Dabei geht es nicht immer fair zu. Nicht alle verfügen über die gleichen Chancen, manche erleben sozialen Ausschluss, materielle Armut oder Diskriminierung. In Krisenzeiten wiegen solche Missstände besonders schwer. Kritik an diesen Umständen ist eine Grundbedingung liberaler Demokratien. Nicht alles, was sich solche ausgibt ist jedoch Kritik: Es gibt gewichtige Unterschiede zwischen Kritik und Verschwörungsideologien.
Lieber nach Erklärungen suchen als nach Schuldigen
Für konkrete Probleme gibt es teilweise klar benennbare Gründe oder Verantwortliche, die durchaus kritisiert werden können. Aber nicht alle globalen Krisen, wie die COVID-19 Pandemie im Jahr 2020, können auf einzelne Verantwortliche oder Auslöser reduziert werden. Wer „eine kleine Gruppe Mächtiger“ für alles Negative in der Welt verantwortlich macht, personalisiert ein sehr vielschichtiges Problem. Diese Personalisierung erzeugt Hass auf diejenigen, die für die „Gruppe Mächtiger“ gehalten werden. In der Regel handelt es sich dabei um eine antisemitische Verschwörungserzählung, weil seit Jahrhunderten der Mythos einer „jüdischen Weltverschwörung“ verbreitet wird. Antisemitische Texte, wie die „Protokolle der Weisen von Zion“ bilden leider noch immer die Blaupause für moderne Verschwörungsideologien und –mythen. Es gibt stets Verschwörungsideolog*innen, die alles Böse „den Juden“, der Familie Rothschild oder George Soros und ihrer angeblichen Verschwörung anhängen.
Der Weg ist das Ziel
Wissenschaft versucht, komplexe Zusammenhänge oder Phänomene zu verstehen. Dazu gehört ergebnisoffenes Arbeiten. Alle Gedankenschritte und Forschungsgrundlagen müssen nachvollziehbar sein, dürfen kritisiert oder widerlegt werden. Wichtig ist der Erkenntnisgewinn.
Eine Verschwörungserzählung hingegen kennt schon die Antwort, bevor sie die Frage stellt. Ihr Ziel ist nicht Erkenntnisgewinn, sondern die Suche nach Informationen, die das eigene Weltbild bestätigen. Die Existenz einer Verschwörung wird nicht infrage gestellt, sondern sie steht bereits vor jeder Information fest.
Zudem bieten Verschwörungsideologien leicht zugängliche Identitätsangebote. So fühlen sich die meisten Verschwörungsideolog*innen als „Aufgewachte“, die verstandenen haben „was wirklich gespielt wird“, und als gute Widerstandskämpfer*innen gegen die „böse Weltverschwörung“. Das hebt sie vom Rest der Gesellschaft ab und gibt ihnen das Gefühl, besonderes und einzigartig zu sein.
Zu Gesellschaftskritik gehört auch Selbstkritik und das Ertragen von Nicht-Wissen
Wer vorgibt, alles zu hinterfragen, sollte vor sich selbst nicht Halt machen. Die eigene Position hin und wieder einer eingehenden Kritik zu unterziehen, hilft dabei. Es geht nicht darum, immer zu 100% richtig zu liegen, sondern die Fähigkeit zu entwickeln bzw. nicht einzubüßen, menschenfeindliche, diskriminierende und verschwörungsideologische Anteile in der eigenen Meinung zu erkennen. Und manchmal muss auch ertragen werden, dass Erkenntnisse widersprüchlich sein können, nicht eindeutig sind oder Fragen zumindest aktuell nicht beantwortet werden können.
Das Projekt „No World Order – Handeln gegen Verschwörungsideologien“
Das Projekt „No World Order. Handeln gegen Verschwörungsideologien“ wurde im Jahr 2015 ins Leben gerufen, um die Zivilgesellschaft über die Gefahren aufzuklären, die von Verschwörungsideologien ausgehen und Gegenstrategien aufzuzeigen. Es behandelt insbesondere das Verhältnis von Verschwörungsideologien und Antisemitismus. Mit seinem Angebot an Bildungsmaterialien, Vorträgen, Workshops und Erstberatung richtet sich das Projekt an Multiplikator*innen aus dem Bereich schulischer und außerschulischer Bildungsarbeit, Mitarbeitende von Beratungsstellen und NGOs sowie Fachpersonen des Forschungsfeldes Conspiracy Theory Studies.
Kontakt: www.amadeu-antonio-stiftung.de/verschwoerungverschwoerung
Der Text ist ein Auszug aus der Broschüre:
Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.): Wissen, was wirklich gespielt wird: Krise, Corona und Verschwörungserzählungen (2020)
In Zeiten globaler Krisen und den damit verbundenen Unsicherheiten werden Verschwörungsideologien besonders häufig geteilt. Vermeintlich wird Kritik geübt, doch in Wirklichkeit werden komplexe Zusammenhänge auf das Wirken einzelner Personen oder Gruppen reduziert. Verschwörungsideologien entwerfen ein apokalyptisches Bild, aus dem es nur einen Ausweg zu geben scheint: den Kampf der Guten gegen die „Verschwörung“. Diese Handreichung des Projekts No World Order soll dabei helfen, Verschwörungserzählungen um die COVID-19 Krise zu widerlegen und ihre Verbreitung einzudämmen. Dazu wurden sieben aktuell populäre Verschwörungserzählungen zusammengestellt, die in ihnen enthaltenen Missverständnisse, Lügen und Desinformationen aufgedeckt und ihnen mit Fakten begegnet.
PDF zum Download: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2020/05/AAS_wissen_was_wirklich_WEB.pdf
Weitere Themen aus der Broschüre auf Belltower.News:
- Vernunft in der Krise – Kritik oder Verschwörungideologie?
- COVID-19 ist real und bedroht Menschenleben /„COVID-19 gibt es gar nicht“
- Die Eindämmung einer Pandemie sollte vor allem auf Solidarität basieren / „Maskenpflicht ist Diktatur“
- Die Pandemie wird nicht durch Vandalismus bezwungen / „Das Problem ist nicht COVID-19, sondern 5G-Strahlung“
- COVID-19 ist lebensbedrohlich und hochgradig ansteckend / „COVID-19 ist nicht gefährlicher als eine Grippe“
- COVID-19 ist eine Gefahr für die gesamte Weltbevölkerung / „COVID-19 ist Teil eines großen Plans zur Zwangsimpfung“
- Die Rechtfertigung einer Pandemie ist menschenfeindlich / „COVID-19 ist die Rache Gottes oder der Natur“
- Wir können nicht immer alles unmittelbar verstehen / „Alles was mich verunsichert ist Teil einer großen Verschwörung“
- Was macht Menschen in der Krise so anfällig für Verschwörungsideologien?
- Antisemitismus und COVID-19
- Was tun?