In Deutschland findet jeden zweiten Tag ein Angriff gegen geflüchtete Menschen statt. Auch Gewalttaten gegen Frauen, gerade im Kontext häuslicher Gewalt, haben in erschreckendem Ausmaß zugenommen. In Deutschland sind fast 600 mit Haftbefehl gesuchte, gewaltbereite Neonazis auf freiem Fuß. Die ökonomische Lage prekärer Menschen verschärft sich zunehmend; gerade Obdachlose können sich in den kommenden Wintermonaten nicht sicher sein, ob sie überleben werden.
Doch faschistische und patriarchale Gewalt oder die Brutalität ökonomischer Ungleichheit scheinen alles nur Kinkerlitzchen im Vergleich zu der tatsächlichen Bedrohung, die Deutschland heimsucht: die Bedrohung der Woke-Kultur. Hierbei handelt es sich, wenn man beispielsweise den Podiumsteilnehmenden einer Konferenz mit dem Titel „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?“ folgt, um eine brandgefährliche Ideologie.
Auf der Veranstaltung, die nur wenige Tage nach der Reichspogromnacht stattfand und von dem CDU-nahen Thinktank „Denkfabrik r21“ organisiert wurde, wurde diese Bedrohung intensiv besprochen. Kabarettist Dieter Nuhr sprach von einer „kleinen, machtvollen Elite“, die „versucht zu steuern“, Ex-Familienministerin Kristina Schröder spricht über eine „Minderheit“, die im „Besitz der kulturellen Produktionsmittel“ sei. Wer sich auch nur minimal mit den Funktionsweisen von Antisemitismus auskennt, horcht bei diesen Worten auf, vor allem wenn diese nur wenige Tage nach der Reichspogromnacht gesprochen werden.
Der als Feindbild beschworene Begriff „woke“ stammt ursprünglich aus der afroamerikanischen Community. Er beschreibt eine Bewusstseinsentwicklung bezüglich der Omnipräsenz und systematischen Natur rassistischer Gewalt. Wer „woke“ ist, realisiert also einen real existenten Unterdrückungsmechanismus und sieht die Notwendigkeit, diesen durch antirassistische Kämpfe aufzuheben.
Diese positive Bedeutung des Wortes wird aktuell aber mit allen verfügbaren Kräften umgekehrt. Nun wird das „Woke“-Sein von Markus Söder über BILD TV über die Querdenken-Bewegung bis nach Rechtsaußen als „die größte Gefahr für unsere Gesellschaft“ (Judith Sevinc Basad) begriffen, als Gefährdung der Demokratie in Deutschland. Andere würden so vielleicht als die tausenden Teilnehmenden rechtsradikaler Demonstrationen beschreiben, die alleine schon in der ersten Novemberhälfte in allen Teilen Deutschlands stattfanden. Bei näherer Betrachtung offenbart sich dieses Feindbild “Woke” jedoch als die projektiv aufgeladene Angst vor der progressiven Veränderung des Status Quo – der auf der Unterdrückung und Ausbeutung marginalisierter Menschen basiert.
Um die Ideologie der Menschen, die sich von dem „Woke-Wahnsinn“ bedroht sehen, zu verstehen, sind drei Gedanken grundlegend:
1) Diese Ideologie ist realitätsblind. Systematisch verankerte patriarchale oder rassistische Unterdrückung existieren hier nicht. Deswegen werden feministische oder antirassistische Forderungen nicht das Streben nach Emanzipation und Gleichwertigkeit begriffen, sondern viel mehr der Versuch gesehen, eine gesellschaftliche Herrschaftsposition zu erreichen.
2) Diese Ideologie ist irrational. Sie speist sich aus der affekthaften Angst vor dem Verlust der eigenen identitären und gesellschaftlichen Vorherrschaft, die auf der Abwertung Marginalisierter aufgebaut ist. Deshalb sehen sich ihre Anhänger*innen als bedrohte Opfer.
3) Deshalb ist diese Ideologie ist keine Sache von Rechtsaußen, sondern gesellschaftlich weit verbreitet. Der Hass gegen die Emanzipation marginalisierter Menschen findet sich in allen gesellschaftlichen Schichten. Es ist jedoch naheliegend, dass Anhänger*innen dieser Ideologie regelmäßig am rechten Rand Zuspruch und schlussendlich ihr Zuhause finden.
Die Realitätsferne der Reaktion
Der Vorwurf der „woke“-Ideologie wird in der Regel gegen progressive Aktivist*innen in Stellung gebracht, die sich für die Sichtbarkeit und Emanzipation queerer Menschen einsetzen. Diese würden ihre Identität als Unterdrückte überbetonen, und hätten sich so sehr in eine Opferrolle hinein gesteigert, dass mit ihnen kein vernünftiger Diskurs mehr zu führen sei. Dies sei jedoch unnötig, denn: in Deutschland hätte jeder Mensch die gleichen individuellen Freiheitsrechte, und demzufolge auch gesellschaftliche Chancen und Möglichkeiten.
Dies hält in einem Land, in dem die gesellschaftliche Ausgrenzung zum Beispiel Geflüchteter, Behinderter oder armer Menschen institutionell verankert ist, jedoch nicht einmal der theoretischen Prüfung stand. Die Erniedrigung und Ausbeutung von Frauen, queeren Menschen und People of Colour ist, so oft es auch reaktionäre Menschen verleugnen wollen, systematisch und omnipräsent. Dies abzustreiten ist falsch, realitätsfremd und ignorant.
Zudem ist jene gesellschaftliche Teilhabe, die marginalisierte Menschen genießen, nie Geschenk ihrer Unterdrücker*innen gewesen, sondern immer Resultat heftiger Kämpfe. Die Forderung nach absoluten Banalitäten wie Gendersternen, Frauenquoten, gleicher Bezahlung oder dem Verzicht auf rassistische Begriffe ist nichts anderes als der Wunsch, ohne Angst verschieden sein zu können. Menschen in Hegemoniepositionen wissen es nicht, wie es ist, Unterdrückung zu erfahren. Diese recht eingeschränkte Lebenserfahrung projizieren sie auf alle anderen – ohne diesen Menschen jedoch zuhören zu wollen.
Es gibt durchaus auch Frauen oder People of Colour, die gegen ihre eigenen Interessen handeln. Dies hat vielfältige Gründe – in der Regel um zu beweisen, zu den „guten“ Unterdrückten zu gehören, in der Hoffnung, ebenfalls von der Vorherrschaft profitieren und sich vor gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit schützen zu können. Besonders bitter ist, wenn zum Beispiel wie bei Sarah Wagenknecht die Kämpfe prekarisierter Gruppen gegeneinander ausgespielt, statt intersektional zusammengedacht zu werden.
Die Lust am Verfolgtsein
Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder zittert vor Empörung, als er die Stimme zum Appell erhebt: „Aus Berlin heraus: Wokeness. Das ist und das sage ich euch in aller Deutlichkeit, keine neue Freiheit, sondern illiberales zwanghaftes Spießertum.“ Ergriffen fährt er fort: „Ich will mehr Polizei auf den Straßen, aber weniger Sprech- und Denkpolizisten in den ideologischen grünen Stuben. Das braucht es nicht!“ Denn, so führt der Mann, der Klimaaktivist*innen in Präventivhaft nimmt, fort: „Wir sind ein Land der Freiheit und kein Land des Zwanges, liebe Freunde!“ Tosender Applaus.
Ähnliches lässt Parteikollege Merz verlautbaren, der in der „größten Bedrohung für Meinungsfreiheit“ weniger gezielte Kampagnen gegen progressive Aktivist*innen oder die maximal mit Bewährungsstrafen geahndeten Neonazi-Angriffe auf Journalist*innen sieht, sondern die von der woken Bewegung initiierte „Cancel Culture“. Diese würde jede Person mundtot machen, die es auch nur wagt, das Wort „Zweigeschlechtlichkeit“ zu flüstern.
Nichts dürfe „man“ mehr sagen, ohne sofort Repressionen zu erfahren, so zumindest der Tenor in diversen öffentlich natürlich zugänglichen Zeitungsartikeln, Talkshows und Beststeller-Büchern. „Die Freiheit der Rede, sind mithin Meinungsfreiheit, Freiheit der Wissenschaft, Kunst- und Pressefreiheit [ist] gefährdet und in Teilen der Gesellschaft bereits faktisch eingeschränkt“, lamentieren die Sprecher der „Denkfabrik r21“-Konferenz. Sie schreiben das in der Welt, einer der großen, überregionalen Zeitungen des Landes, die offenbar kein Problem hat, sich tapfer gegen die Einschränkung der Freiheit zu wehren.
Vielleicht ist es die Trauer darüber, dass es uncool geworden ist, sich offen zur Rolle als Unterdrücker zu bekennen. Selbst der reichste Mann der Welt stellt sich lieber als cooler Underdog dar, der die Plattform Twitter nicht etwa aus dem Wunsch heraus aufgekauft habe, um einer Diskursverschiebung nach Rechts dienlich zu sein – sondern um jedem Menschen das Recht auf „freie Rede“ zu sichern. Dies meint auf Musks Twitter aber ganz konkret: das konsequenzenlose Abwerten von Menschen, etwas durch Misgendern von trans Personen oder die Verwendung des N-Wortes. Auch in Deutschland kennen wir das: Die Selbstinszenierung als aufrechter Held, der gegen eine politisch überkorrekte Minderheit ins Feld zieht, um das Recht der deutschen Bevölkerung auf das Grölen sexistischer Bierzelt-Hits zu verteidigen, fühlt sich für die Einzelperson auch besser an als das Wissen, nichts anderes als ein stumpfer Chauvinist zu sein.
Dieses Verfolgungsgefühl ist jedoch genuin und lässt sich in dem verorten, was die kritische Theorie als „pathische Projektion“ bezeichnet. Verhasste und verleugnete Eigenanteile werden abgespalten, und auf das Feindbild projiziert – in diesem Fall also progressive Aktivist*innen, die entweder aus marginalisierten Communities stammen oder Positionen vertreten, die in einer leider nach wie vor recht autoritären Gesellschaft auf Ablehnung stoßen. Das, was man also selbst eigentlich gern tun möchte, wird anderen unterstellt, um es dann um so vehementer und aufrechter verurteilen zu können.
Im Falle von „Cancel Culture“ bedeutet dies: diejenigen, die am lautesten danach schreien, von einer Antirassistin mundtot gemacht zu werden, wünschen sich nichts sehnlichster, als diese zum Schweigen zu bringen. „Man ist entweder woke – oder man ist der Feind. Man ist nicht Diskussionsgegner oder einfach anderer Meinung, sondern schlichtweg der Feind, der mit allen Mitteln aus dem Diskurs eliminiert werden muss“ schreibt etwa die Welt”-Journalistin Anna Schneider, während einer ihrer Kollegen regelmäßig misogyne Kampagnen gegen Frauen aus dem linken Spektrum initiiert, um diese aus dem politischen Diskurs zu „eliminieren“, um mal bei der markigen Wortwahl zu bleiben.
Die Angst vor dem Verlust der Vorherrschaft
Gegen die „Woke-Kultur“ wetternde Vertreter*innen der FDP oder der Unionsparteien als auch sich im bürgerlich-liberalen Milieu verortende Publizist*innen werden nicht müde zu betonen, dass sie ja auch ein Problem mit der radikalen Rechten hätten. Progressive Aktivist*innen würden jedoch eigentlich eine viel größere Bedrohung der Gesellschaft darstellen als Neonazis oder deren parlamentarisch agierender Arm. In den USA zumindest sei diese ganze Sache – gemeint ist Rechtspopulismus bis gewaltoffener Rechtsextremismus – eigentlich auch nur Reaktion auf linke Identitätspolitik (“Denkfabrik r21”-Artikel in der „Welt“).
Diese These ist nicht neu. Sie wurde etwa schon 2017 von der Kulturwissenschaftlerin Angela Nagle publiziert – und vielfach widerlegt. Sie ignoriert, dass der Wunsch der Unsichtbarmachung bis Vernichtung all jener Menschen, die dem antisemitischen, antifeministischen, queerfeindlichen, rassistischen und sozialchauvinistischen Weltbild zuwiderlaufen, inhärent ist. Rechtsradikale werden nicht rechtsradikal, weil ihnen die Debatte um geschlechtsneutrale Toiletten zu sehr auf die Nerven geht. Sie werden rechtsradikal, weil sie Angst vor dem Verlust einer imaginierten oder realen Vorherrschaft haben. Und diese Vorherrschaft ist auf der systematischen Gewalt gegenüber anderen aufgebaut, von der auch brave Bürgerliche profitieren, vor allem Weiße, patriarchale, bürgerliche, christliche. Vorherrschaft basiert auf der Abwertung anderer.
Dies funktioniert einerseits auf gesellschaftlicher, andererseits auf individueller Ebene: Männer beispielsweise erfahren durch die Abwertung von Frauen und queeren Menschen das Gefühl narzisstischer Überhöhung und Überlegenheit. Feministische Kämpfe werden nicht nur als konkrete Bedrohung dieser Vorherrschaft aufgefasst, sondern auch als Angriff auf die eigene Identität.
Deshalb ist die Gegenreaktion auf progressive Kämpfe so affekthaft: Sie ist getrieben von einer genuinen Angst vor einer Veränderung der Verhältnisse, mit denen eine Identifikation stattgefunden hat. Der bequeme Status Quo, und damit einhergehend die eigene privilegierte Position, müssen verteidigt werden. Das macht die Kritik an reaktionären Positionen so schwierig, deren Ziel es ist, politischen Fortschritt zu delegitimieren: da diese Positionen von Gefühlen und Affekten gespeist sind, lässt sich ihnen mit rationalen Argumenten recht schlecht beikommen.
Kulturmarxismus reloaded
Der Attentäter von Utøya, der im Juli 2011 77 vor allem minderjährige Menschen ermordete, schrieb in seinem Manifest an dutzenden Stellen von „kleinen, kulturmarxistischen Eliten“, die „gezielt staatliche Institutionen und die Medien nutzen, um ihre Bevölkerung zu indoktrinieren und zu kontrollieren“. Nun sind all die bürgerlichen Politiker*innen und Publizist*innen, die gegen eine „woke Agenda“ ins Feld ziehen, keine potentiellen Rechtsterrorist*innen – aber es ist interessant, wie viele Parallelen sowohl die Rhetorik als auch die dahinterstehende Ideologie aufweisen.
Was die bürgerliche Rechte mit „woke“ beschreibt, bezeichnet ihre radikalere Schwester als „Kulturmarxismus“ – ein Begriff, der im Manifest des Rechtsterroristen von Utøya fast 500 Mal auftaucht. Der Begriff des „Kulturmarxismus“ ist eine antisemitische Chiffre. Sie besagt, dass die Vertreter der Frankfurter Schule – also jüdische Kommunisten – nach ihrer Flucht vor dem Nationalsozialismus in die USA sich dort ihr Wissen über Sozialpsychologie und Kulturindustrie zu Nutze gemacht hätten, um ihre Lehre in den Universitäten, den Zeitungen und Hollywood zu etablieren.
So sei der Kulturmarxismus die treibende Kraft hinter dem Feminismus, der Bürgerrechtsbewegung oder den Protesten gegen Vietnamkrieg gewesen, also: Juden seien die treibende Kraft hinter Bewegungen, die gegen einen patriarchalen, weißen und gottgewollten Status Quo protestieren. Inzwischen halte die kulturmarxistische Agenda den Westen fest umklammert und steuere die Geschicke der westlichen Welt. Das ist nur wenig von dem Lamento über eine den öffentlichen Diskurs beherrschende „woke Agenda“ entfernt.
Wohin der Hass auf „Woke Culture“ führen kann, lässt sich momentan in den USA sehr gut beobachten. Ron de Santis, Gouverneur von Florida und Präsidentschaftskandidat für 2024, ließ dort vor wenigen Tagen verlauten: „Wir werden den woken Mob niemals über unser Leben bestimmen lassen. Florida ist der Ort, wo die woke Ideologie sterben wird!“ De Santis ist einer der aggressivsten Vertreter des christlichen weißen Nationalismus in den USA, der Florida mit einem brutalen Autoritarismus regiert. Seine Politik richtet sich vor allem gegen queere Menschen, Migrant*innen, und das Recht auf körperliche Selbstbestimmung.
Von der Mitte an den rechten Rand
Dabei sehen sich die im Text erwähnten Personen mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes, als lupenreine Demokrat*innen. Deshalb geben sie auch an, mit ihrem Tun, Demokratie verteidigen zu wollen: Der Thinktank „Denkfabrik r21“ oder Politiker wie Friedrich Merz wollen „Union und FDP aus dem Tiefschlaf wecken“, so die Neue Züricher Zeitung. Dies soll aber erreicht werden durch Aussagen, die sich genauso gut bei der AfD finden lassen, minus das Lippenbekenntnis gegen den rechten Rand.
Dieses kann übrigens auch recht schnell zurückgenommen werden, wenn es gegen den gemeinsamen Feind geht: Im November haben AfD und CDU in Thüringen gemeinsam den Vorschlag abgewiesen, in Landtag und Landesregierung öffentlich zu gendern. Artikel, die gegen queere Selbstbestimmung oder Feminismus Stimmung machen, in dem sie sie als „Cancel Culture“ einer „Woke Agenda“ bezeichnen, werden auch von bürgerlichen Medien publiziert – und dann besonders gern in demokratiefeindlichen Gruppen auf Telegram geteilt. Dem rechten Rand zugehörige Publikationen wie die „Achse des Guten“ und „Tichys Einblick“ echauffieren sich wöchentlich über „Bolschewoken“ – und klingen dabei nur wenig radikaler als ein Markus Söder.
Wie die im November 2022 zum zweiten Mal publizierte Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig aufzeigt, sind autoritäre Tendenzen und vor allem antifeministische Ressentiments in Deutschland angestiegen – das sind die, die (Queer)feminismus immer wieder als Teil der „woke Agenda“ zum Feindbild machen. Der Kampf gegen progressive Politik ist immer wieder ein vereinendes Element zwischen bürgerlicher und radikaler Rechte. Parteien wie die Union und die FDP müssen sich fragen, was ihnen wichtiger ist: Alles ansatzweise „woke“ zu kritisieren, oder die Verteidigung der Demokratie gegen rechtsextreme Ideologie.