Es war ein bewölkter Herbsttag am 18. November in der knapp 9.000 Einwohner-Stadt Wunsiedel im Fichtelgebirge. Am Marktplatz wurde eine Bühne aufgebaut, auf der die Nürnberger Band „Skyline Green“ einen wilden Mix aus Balkan-Ska, Reggae und Salsa spielte. Danach folgte die extra aus Italien angereiste Ska-Punk Band „Los Fastidios“. Die Stimmung war ausgelassen und die Musiker gaben zwischen den Songs Statements gegen Rechtsextremismus ab. Es kamen viele Menschen zusammen, um ein Zeichen gegen Rassismus und Neonazismus zu setzen.
Eigentlich alles wie immer, denn die Kleinstadt im Fichtelgebirge wird jährlich von Neonazis heimgesucht, um dort eine Demonstration unter dem Motto eines „Heldengedenkens“ durchzuführen. Dabei wird regelmäßig den Tätern des Nationalsozialismus gedacht. Der Ort ist nicht zufällig gewählt, denn in Wunsiedel lag Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß begraben, bis 2011 das Grab aufgelöst wurde.
Heß beging 1987 Selbstmord im Kriegsverbrechergefängnis Berlin-Spandau, wo er nach seiner Verurteilung bei den Nürnberger Prozessen inhaftiert war. Kurz vor seinem Tod äußerte Heß den Wunsch, im Grab seiner Eltern auf dem evangelischen Friedhof in Wunsiedel bestattet zu werden. Er hatte dort zwar nie gelebt, aber seinem Wunsch wurde aus christlichen Beweggründen entsprochen.
In der Neonaziszene etablierte sich das Narrativ, dass Heß ermordet wurde. Der Nazi wurde zu zum Märtyrer für die Szene.
Heß Todestag wurde seit 1987 zum alljährlichen Anlass für neonazistische Aufmärsche. Die sogenannten „Rudolf-Heß-Gedenkmärsche“ in Wunsiedel etablierten sich im Laufe der Zeit zu einer wichtigen Veranstaltung für die rechtsextreme Szene und wurde mit ca. 2.500 Teilnehmer*innen 2002 und 3.800 Teilnehmer*innen 2004 zur größten Nazi-Demonstration Deutschlands.
In den Folgejahren wurde die Demonstration mehrfach gerichtlich verboten. Um dieses Verbot zu umgehen, wurde 2009 eine ein Gedenkmarsch zu Ehren des 2009 verstorbenen Jürgen Riegers angemeldet. Der Rechtsanwalt und NPD-Politiker Rieger war lange Zeit für die Anmeldung der Veranstaltung verantwortlich. Auf diese Weise wurde versucht, eine Ersatzveranstaltung zu den „Heß-Märschen“ zu etablieren.
Hatte die Demonstration 2009 noch ca. 850 Nazis nach Wunsiedel gelockt, konnten in den Folgejahren nur noch 200 bis 250 Teilnehmer*innen mobilisiert werden. Nachdem die Veranstaltung 2020 ausgefallen war, da der „III. Weg“ (eine rechtsextreme Kleinstpartei, die in den letzten Jahren für die Organisation der sogenannten „Heldengedenken“ verantwortlich war) die Auflagen wegen der Corona-Pandemie für untragbar hielt, sank die Teilnehmer*innenzahl 2021 auf 150 und im letzten Jahr auf 130. In diesem Jahr verzichtete der „III. Weg“ komplett auf die Organisation einer Veranstaltung in Wunsiedel.
Das Ausbleiben der Nazi-Umtriebe in Wunsiedel ist zunächst ein Grund zum Feiern. Jedoch ist unklar, was in Zukunft passieren wird und ob Wunsiedel endlich aufatmen kann. Das Bündnis „Wunsiedel ist bunt“ existiert seit 2004 und die beiden Sprecherinnen Christine Lauterbach und Svenja Faßbinder waren zu einem Gespräch mit Belltower.News bereit.
Laut den beiden fanden 2002 zum ersten Mal Gegenveranstaltungen unter dem Motto „Wunsiedel ist bunt“ statt. 2005 folgte die Gründung der „Bürgerinitiative Wunsiedel ist bunt – nicht braun“ sowie das „Wunsiedler Bündnis gegen Rechtsextremismus“. Mittlerweile agiere „Wunsiedel ist bunt“ als ein Netzwerk von zahlreichen Einzelpersonen jeden Alters aus Haupt- und Ehrenamt sowie Vereinen und Organisationen aus den unterschiedlichsten Bereichen wie Kirchen, Kommunalpolitik, Gewerkschaften, Schulen und andere.
Im Landkreis Wunsiedel selbst gebe es keine aktive Neonaziszene mehr. Die Teilnehmer*innen der „Heldengedenken“ der letzten Jahre seien mit Bussen nach Wunsiedel gebracht und nach den Aufmärschen wieder weggebracht worden. Dies habe sich 2020 bestätigt, als die bereits angemeldete Veranstaltung des „III. Wegs“ abgesagt wurde, da wegen der in Bayern geltenden Corona-Auflagen maximal fünf Personen aus dem eigenen und einem weiteren Hausstand in einem PKW hätten anreisen dürfen.
Auf die Frage, warum die Teilnehmerzahlen bei den Naziveranstaltungen in Wunsiedel stetig sinken, antworteten die beiden Gesprächspartner*innen des Bündnisses, dass dies an mehreren Faktoren liege. Zum einen gebe es zwar einen offensichtlichen Rechtsruck in der Gesellschaft, der sich durch einen erstarkenden Populismus, Rassismus und Antisemitismus manifestiere, andererseits befinde sich die rechtsextreme Szene im Wandel und die Grenzen zum rechtsextremen Rand würden immer mehr verschwinden. Die Möglichkeit, der eigenen Gesinnung im Internet offen Ausdruck zu verleihen und Gleichgesinnte zu finden, mag dazu beitragen, dass es weniger attraktiv geworden sei, sich einer rechtsextremen Kleinstpartei anzuschließen, die sich eng am historischen Nationalsozialismus orientiert.
Außerdem sei davon auszugehen, dass das Ausbleiben der Mobilisierung nach Wunsiedel in diesem Jahr und die sinkenden Teilnehmer*innenzahlen in den Jahren zuvor auch das Ergebnis des stetigen Gegenprotests und des Widerstandes von „Wunsiedel ist bunt“ ist. So seien in Wunsiedel unterschiedlichste Mittel ergriffen worden, um gegen die Versammlungen der Nazis vorzugehen. Nach der erfolgreichen Initiative, das Verbot der Verherrlichung, Billigung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, konnten die bis dahin durchgeführten „Heß-Gedenkmärsche“ ab 2005 verboten werden. Anschließend waren es unterschiedliche Aktionen von „Wunsiedel ist bunt“, die Schritt für Schritt bewirkten, den Nazi-Aufmärschen die Aufmerksamkeit zu entziehen. Angefangen von der Belegung der Innenstadt durch Gedenkveranstaltungen auf den Todesmarschrouten über den „unfreiwilligsten Spendenlaufs Deutschlands“ (https://www.belltower.news/kreativer-spendenlauf-in-wunsiedel-die-waren-so-schnell-weg-wie-lange-nicht-mehr-38300/) bis hin zum Sternlauf mit Laternen von allen Kindergärten und Schulen aus zum Marktplatz hat man erreicht, dass das „Heldengedenken“ auf einer kleinen Route außerhalb der Innenstadt nur noch wenig Aufmerksamkeit erzielte.
Die deutsche Neonaziszene hat mit der „Märtyrerstadt“ Wunsiedel einen Mythos geschaffen und die Stadt zum Wallfahrtsort gemacht. Jedoch geht das Bündnis davon aus, dass ein Besuch in Wunsiedel als Ort der Initialisierung und der Stärkung des inneren Zusammenhalts in der Szene über die Jahrzehnte weniger Wirkung zeigt. Ob sich diese Tendenz vorsetzt, müsse aber abgewartet werden.
Sollte der „III. Weg“ oder andere rechtsextreme Parteien oder Organisationen nächstes Jahr erneut nach Wunsiedel mobilisieren, werden sich die Mitglieder des Netzwerkes „Wunsiedel ist bunt“ weiterhin unnachgiebig für Demokratie und Toleranz einsetzen. Dies gelte aber unabhängig von Nazi-Aktivitäten in der Stadt, denn im Hinblick auf den Rechtsruck in der Gesellschaft bleibt die Aufgabe jeglicher Art von Rechtsextremismus und Rassismus entschieden entgegenzutreten.
Belltower.News wünscht dem Bündnis „Wunsiedel ist bunt“ dabei weiterhin viel Kraft und Erfolg. Vielen Dank für die Bereitschaft, mit uns über die aktuelle Lage in Wunsiedel zu sprechen und mit viel Glück ist der Nazi-Spuk in der Stadt nun endlich Geschichte!