Dienstagnachmittag am Bahnhof in Wurzen: In wenigen Minuten kommen Demonstrant*innen mit einem Zug aus Leipzig an, um gegen die erste Sitzung des neuen Stadtrats zu demonstrieren, in den nach den letzten Kommunalwahlen noch mehr rechte Kommunalpolitiker eingezogen sind. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite warten mit Benjamin Brinsa und Christoph Mike Dietel bereits zwei rechte Stadtratsmitglieder des „Neuen Forum Wurzen“, die mit drei Sitzen in den neuen Stadtrat eingezogen sind. Um sie herum sind mehrere dutzend weitere Rechte anwesend, die ebenfalls auf die anreisende antifaschistische Demonstration warten. Viele von ihnen haben Bierflaschen in der Hand und zeigen offen ihre rechte Haltung.
Als kurz darauf die ersten Demonstrant*innen den Bahnhof verlassen und ihre Transparente entrollen, zieht eine Gruppe Jugendlicher mit einem Bierkasten in der Hand vorbei. Als sie die linke Demonstration entdecken, grölen sie die neonazistische Parole „Frei, Sozial und National“ und lassen sich im anliegenden Park nieder. Kurz darauf ist aus dieser Gruppe ein „Heil Hitler“-Ruf zu hören und ein Hitlergruß wird gezeigt, den auch die Polizei wahrnimmt, aber es vorerst dabei belässt, Fotos vom Täter zu machen. Bereits hier zeigte sich, wie sicher sich extrem rechte Akteure in Wurzen fühlen.
Eine lange Geschichte rechter Gewalt
Unterdessen hat sich die antirassistische Demonstration aufgestellt und läuft in Richtung des Rathauses los. Gleich zu Beginn passiert die Demonstration das Grundstück von dem aus es im vergangenen Jahr bei einer antifaschistischen Demonstration zu einem bewaffneten Angriff von lokalen Neonazis auf mehrere Journalisten kam. Auch das heutige Stadtratsmitglied Benjamin Brinsa soll damals unter den Angreifern gewesen sein, die mit Schlagstöcken, Messern und Baseballschlägern bewaffnet waren.
Bereits damals hatte eine Demonstration des Bündnisses „Irgendwo in Deutschland“ in Wurzen stattgefunden, um auf die rechte Hegemonie in der Stadt und die regelmäßigen rechten Übergriffe hinzuweisen. Dass rechte Gewalt in Wurzen bis heute ein traurig aktuelles Thema ist, zeigt eine Chronik des Bündnisses „Rassismus tötet! Leipzig“, die rechte Straftaten seit 2017 aufzählt. Demnach gab es allein im Jahr 2018 45 rechte Straftaten, darunter mehrere, zum Teil schwere Körperverletzungen. Ziel der Angriffe ist auch das „Netzwerk für demokratische Kultur“, das in Wurzen politische Bildungsarbeit anbietet. Dieses Jahr wurde das Gebäude des Vereins bereits zweimal angegriffen.
Benjamin Brinsa – Nazihool und Lokalpolitiker
Die antifaschistische Demonstration wird auf ihrem Weg zum Rathaus immer wieder von am Straßenrand stehenden Rechten und Neonazis bepöbelt. Eine Gruppe junger Rechter läuft in den Parallelstraßen zur Demonstration und provoziert diese an jeder Kreuzung. Immer wieder taucht auch Benjamin Brinsa mit seiner Gefolgschaft von sportlich gekleideten Männern auf, spricht Demonstrant*innen mit Namen an und gibt mit Gesten zu verstehen, dass er einer körperlichen Auseinandersetzung nicht aus dem Weg gehen würde.
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Benjamin Brinsa provoziert die antifaschistische Demonstration
Dass er dazu in der Lage ist, sieht man dem breit gebauten Mann an. Brinsa stammt aus der rechten Hooliganszene des FC Lok Leipzig und ist seit vielen Jahren im Kampfsport aktiv. Er ist vernetzt im für Neonazis offenen Kampfsportverein „Imperium Fight Team“ und ihm werden immer wieder Beteiligungen an neonazistischen Gewalttaten vorgeworfen. Zudem gilt er als eine der zentralen Figuren der neonazistischen Szene in Wurzen und Leipzig. Mit seiner Kandidatur für das „Neue Forum“ schaffte Brinsa jetzt den Schritt in die Lokalpolitik und ist dabei Teil eines sachsenweit zu beobachtenden Trends. Immer mehr Neonazis, die bereits seit vielen Jahren aktiv sind, versuchen über freie Wählerlisten in die Politik zu kommen. Die freien Bündnisse bieten im Gegensatz zu klassischen Neonaziparteien die Chance, dass stramme Neonazis unter einem bürgerlichen Deckmantel gewählt werden und so ihre menschenverachtende Ideologie in der Politik umsetzen können.
Als die Demonstration vor dem Rathaus ankommt, stehen in den Ecken auffällig junge Wurzener herum. Sie tragen T-Shirts der sogenannten „Identitären Bewegung“ oder der neonazistischen Kleinstpartei „Der Dritte Weg“.
Junge Rechte in T-Shirts extrem rechter Organisationen
Ein älterer, volltätowierter Mann mit Hund läuft auf die Demonstration zu und beleidigt die Teilnehmer*innen. Als er fotografiert wird richtet sich sein Hass auf die anwesenden Journalist*innen. Es folgen wüste Beschimpfungen. Einem Journalisten droht der Mann mit dem Tod, falls dieser Fotos von ihm veröffentlichen würde. Nach einer kurzen Ansprache durch die Polizei, darf der Mann weiterziehen.
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Ein aufgebrachter Rechter bedroht Journalisten mit dem Tod
Kurz vor Beginn der Stadtratssitzung kommt der Oberbürgermeister der Stadt Wurzen, Jörg Röglin, aus dem Rathaus, begrüßt das neue Stadtratsmitglied Benjamin Brinsa mit Handschlag und bittet ihn in das Rathaus. Die antifaschistische Demonstration begibt sich auf den Rückweg zum Bahnhof. Dort wird es kurz vor der Abreise noch einmal hektisch. Wie ein Video des Journalisten Henrik Merker zeigt, schreit ein junger Rechter antisemitische Beleidigungen in Richtung der Demonstration und fordert, dass die Gaskammern wieder geöffnet werden sollten. Die Polizei nimmt den jungen Mann darauf in Gewahrsam. Es ist der gleiche Mann, der bereits zu Beginn der Demonstration den Hitlergruß gezeigt hatte.
Die antirassistische Demonstration gegen die rechten Umtriebe in Stadt und Kommunalpolitik hat Wurzen erneut in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Doch einzelne Demonstrationen können zwar für einen kurzen Moment aufzeigen, wo die Probleme in der Stadt liegen, langfristig braucht es jedoch lokalen Widerstand. Die Organisator*innen der Demonstration in Wurzen fordern deshalb in einer Pressemitteilung, dass es keine „Zugeständnisse an die Fraktion von B. Brinsa, kein stillschweigendes Einverständnis mit gewaltbereiten Neonazis“ geben dürfe. Sandra Merth vom Bündnis „Irgendwo in Deutschland“ erklärt: „Jahrelange Ignoranz rechter Strukturen und die Abwehr antifaschistischer Kritik haben Wurzen zum braunen Herz des Muldentals gemacht”. Deshalb stünde Wurzen „vielleicht zum letzten Mal vor der Entscheidung, ob sie sich der Bedrohung von Rechts entgegenstellen. Bald könnte es hier unmöglich werden für Demokratie und gegen Rassismus aufzustehen.”
Die Bilder von Tim Mönch aus Wurzen: