Von Henrik Merker
250 Antifaschist_innen folgten Sonnabend der bundesweiten Antifa-Kampagne „Irgendwo in Deutschland“ nach Wurzen, um gegen rassistische Gewalttaten zu protestieren. Die Kampagne verzeichnet in Wurzen „ungestörte Nazistrukturen“ und eine „schweigende bis unterstützende Stadtbevölkerung“.Seit den 1990er Jahren ist die Region um Wurzen regelmäßig Tatort rechter Gewalt. Beim organisierten Angriff auf das Leipziger Stadtviertel Connewitz im Januar 2016 sollen Neonazis aus der sächsischen Kleinstadt federführend gewesen sein.
Spezieller Anlass der Kundgebung waren Ausschreitungen am 12. Januar in Wurzen, bei denen rechte Jugendliche Geflüchtete jagten. Nach aktuellem Stand der Ermittlungen wehrten sich die Geflüchteten gegen die doppelt so große Gruppe Deutscher auch mit Messern, zwei Deutsche wurden dabei verletzt. Dann stürmten die rechten Jugendlichen mehrere Wohnungen von Geflüchteten, schlugen auf die Bewohner ein. Am nächsten Tag wurden die Geflüchteten evakuiert. Einer der Angegriffenen sagt, in Wurzen fühle er sich überhaupt nicht unterstützt, werde regelmäßig von Deutschen angefeindet und bedroht.
Neonazis jagen Journalisten
Am Sonnabendmittag patrouillierten Neonazis dann durch die Stadt. Zwar wurde die fünfzehn Personen starke Gruppe frühzeitig von Polizisten angehalten, doch kontrolliert wurde sie scheinbar nicht. Nur kurze Zeit später tauchten die 16- bis 25-Jährigen bei der linken Kundgebung im Stadtpark auf, vermummten sich mit Sturmhauben und Tüchern. Nur wenige Polizisten stellten sich vor die Rechtsextremen. Nach einer halben Stunde begleiteten sie die Vermummten bis zu einem Supermarkt am Ende des Parks. Wenig später meldeten die Rechtsextremen eine eigene Kundgebung an.
Quelle: Henrik Merker
Journalist_innen hatten die Gruppe beobachtet und waren auf dem Rückweg zum Stadtpark. Als die Reporter_innen an der Werkstatt „Carwrap Machern“ vorbeiliefen, stürmten vermummte Neonazis aus dem Gebäude. Das Gelände ist als rechte Szene-Immobilie bekannt, wurde von der Polizei trotzdem nicht beobachtet. Fünfzig Meter jagten die Neonazis hinter den Reporter_innen her. Als Gegendemonstrant_innen und Polizei auf die Straße kamen, zogen sich die Angreifer vorerst zurück, die Reporter_innen waren in Sicherheit.
Eine Stunde später standen die Neonazis wieder auf der Bahnhofsstraße, diesmal schwer bewaffnet. Mit einem Arsenal aus Baseballschläger, Teleskopschlagstock, Pfefferspray und Macheten gingen sie auf Journalist_innen und Demonstrierende los. Dem Fotojournalisten Sören Kohlhuber zeigte einer der Neonazis eine Halsabschneide-Geste mit der Machete, brüllte ihm zu: „Wir kriegen dich!“. Journalist_innen und Demonstrierende wurden von den Rechtsextremen abfotografiert. Seit Sonntagabend kursieren die Bilder auf einschlägigen Neonazi-Seiten im Netz.
Einige der Angreifer wurden ohne Vermummung fotografiert, bei anderen lieferte die Kleidung Hinweise auf ihre Identität. Auf Social Media Kanälen wird gemutmaßt, dass Neonazis in der Gruppe waren, die sich am Angriff auf Leipzig Connewitz im Januar 2016 federführend beteiligten. Die Hinweise legen nahe, dass es sich um bundesweit bekannte Szenegrößen aus dem Umfeld des Neonazi-Labels „Front Records“ und der Freefight-Organisation „Imperium Fight Team“ handelt. Aus Datenschutzgründen wollte die Polizeipressestelle Leipzig konkrete Namen von bekannten Kampfsportlern und Neonazis nicht offiziell bestätigen.
Rechtsextreme Hooligans: Professionalisierung der Gewalt im KampfsportAngriff mit Ansage – Rechte Hooligans verwüsten Leipziger Stadtteil Connewitz
Dumm, aber nicht weniger gefährlich: Der #mma-Nazi Benjamin Brinsa beim Messer-Angriff auf Linke in #Wurzen2001 und auf seinem FB-Post in gleicher Jacke. #nonazis pic.twitter.com/nO1cO8rHt0
— treptowelse (@treptowelse) 20. Januar 2018Im Internet wird über den Täterkreis spekuliert
Polizei findet keine Waffen
Von dem Angriff selbst erfuhr die Polizei nach eigenem Bekunden erst via Social Media. Als Polizist_innen eintrafen, versteckten die Neonazis ihre Waffen in der Werkstatt. Am Rande drängte ein Polizist Journalist_innen gewaltsam zur Seite. Als die sich ausweisen wollten, brüllte er sie an, sie sollten sich „verpissen“. Erst als Filmteams dazu kamen, ließ er von den Journalist_innen ab. Zehn Beamte sprachen mit den Neonazis, betraten kurz darauf deren Werkstatt. Waffen konnten sie keine finden. Die Staatsanwaltschaft habe trotz umfangreichen Waffenarsenals der Neonazis und dutzender Beweisfotos keinen Durchsuchungsbeschluss ausgestellt, bestätigt die Pressestelle der Polizei.
Nur ein Imageproblem
Rechte Gewalt wird in Wurzen verharmlost, das zeigen Reaktionen von Bürgermeister und Lokalpresse. Die Stadt habe ein reines Imageproblem, so ein Kommentator der Leipziger Volkszeitung – rassistische Angriffe vergleicht er mit Auseinandersetzungen zwischen Fußballfans.In einer lokalen Facebook-Gruppe diskutiert Wurzens Bürgermeister Jörg Röglin regelmäßig, sobald Kritik an der Stadtverwaltung laut wird. Rechte Hetze und menschenverachtende Kommentare kommentiert er nicht, das belegen umfangreiche Screenshots. Ein weitere lokale Seite, das „Medienportal Grimma“, schreibt von einer „Kundgebung mit Zwischenfällen“. Nur Vermummte finden Erwähnung, keine Neonazis. Teleskopschlagstöcke und Baseballschläger werden in Anführungszeichen und kursiv als „Waffen“ benannt – ein altes Stilelement der Verharmlosung. Auf einschlägigen Neonazi-Seiten wird derweil behauptet, Linke hätten die Szene-Immobilie der Neonazis angegriffen, sie hätten sich verteidigen wollen. Eine haarsträubende Lüge sei das, sagt Polizeipressesprecher Uwe Voigt. Dass solche Märchen bei der Wurzenener Bevölkerung aber Gehör finden, hat der Angriff auf Geflüchtete vom 12. Januar zur Genüge bewiesen.