Rechtsextremist*innen und Verschwörungsideolog*innen schwärmen um die Figur des Ye, ehemals bekannt als Kanye West. Der schlechte Gesundheitszustand des Rappers und seine antisemitischen Aussagen werden von Nazis medienwirksam instrumentalisiert. Denn Ye ist nichts als der neueste Promi, der sich als „nützlicher Idiot“ der extremen Rechten ausschlachten lässt.
In der Folge der „Info Wars“-Show mit Alex Jones vom 1. Dezember 2022 hat Rapper Kanye West, jetzt bekannt als Ye, eine verstörende Rede gehalten. Wiederholt lobt er Adolf Hitler und die NSDAP. Seine Aussagen sind so ausufernd, dass dagegen selbst Alex Jones, bekannt als langjähriger König aller Verschwörungsideolog*innen, besonnen wirkt. Mit dabei war auch Ye’s neuester „Freund“, der Rechtsextreme Nick Fuentes. Fuentes scheint in Ye’s desolaten Zustand seine Chance gewittert zu haben, rechtsextreme Rhetorik reichweitenstark platzieren zu können.
Das SWAT-Team der Freien Meinungsäußerung
Am Anfang der Sendung blicken Zuschauer*innen auf einen vermummten Ye, der mit seiner Bibel am Rednerpult des Alex Jones sitzt. Ye wird kurz anmoderiert und legt mit einem chaotischen Redeschwall los. Immer wieder springt der Rapper zwischen seinen Ideen, wirkt assoziativ aufgeweicht und beklagt das Geplänkel der Kamera-Crew aus dem Off. Er spricht lose über Gott, beginnt mit einem Bibelzitat, wechselt dann zu einer Tirade gegen Pornografie, verkettet dies mit Redefreiheit.
Es vergehen mehr als 10 Minuten in einem wirren Monolog, bis Alex Jones dann eingreift. Moderator Jones, der ein begnadeter Manipulator und Stimmungsmacher ist, dirigiert Ye in Richtung Meinungsfreiheit. Nick Fuentes meldet sich zu Wort mit einer Kritik an Elon Musks misslungener Amnestie gesperrter Accounts auf Twitter. Alle drei beklagen die fehlende Redefreiheit in den Vereinigten Staaten, die Drosselung ihrer Rechte, angeblich durch „George Soros“, der einfach als antisemitische Chiffre verwandt wird.
Bemerkenswert sind die kumpelhafte Atmosphäre einerseits und die ehrfurchtsvolle Haltung Ye gegenüber andererseits – zu sehen ist eine scheinbare Solidarisierung mit dem jüngst „gecancelten“ Rapper. Fuentes und Jones sehen sich als Märtyrer der Meinungsfreiheit, Ausgestoßene im vermeintlichen Kampf gegen die Dunkelheit: „Ich habe mich mit Ollie Alexander und Nick Fuentes zusammengesetzt und wir haben gesagt, dass wir so etwas wie das SWAT-Team des freien Denkens sind, und ich gehe mit diesem Rammbock an der Tür rein, und dann kommen sie mit diesen Laserstrahlen rein und haben diese Informationen. Und wir arbeiten als Team zusammen. In den Medien wird oft eine Person herausgegriffen und bis ins Mark verbrannt. Das ist ein zionistischer Ansatz.“
„I love Hitler“ und die Vielschichtigkeit des Antisemitismus
In einer Tangente über Meinungsfreiheit kommt es dann zu einer Aussage, die so kognitiv dissonant ist, dass sie surreal wird. Nach einer Allegorie Ye’s über den Film “American History X” wird eine Filmszene gezeigt. Zu sehen ist Edward Norton, der einen Neonazi spielt, der dabei ist, einen schwarzen Mann umzubringen. Auf die explizite Filmsequenz schneidet die Show-Regie Alex Jones Appell an Ye’s Märtyrerstatus: “Du bist nicht Hitler, du bist kein Nazi, du verdienst es nicht, dämonisiert zu werden.” Die Filmszene läuft weiter, als Ye ihm entgegnet: “Tja, nun sehe ich auch Gutes an Hitler… die Juden… Ich liebe jeden, und die Juden werden mir nicht sagen: ’du kannst uns lieben für das, was wir mit den Verträgen und mit der Pornografie machen’. Aber dieser Typ [Hitler], der die Autobahnen erfunden hat, der das Mikrofon erfunden hat, das ich als Musiker benutze, ‘du kannst es nicht laut sagen, dass dieser Mann nichts Gutes getan hat’.“
Die Aussagen wabern im Raum, Nick Fuentes kichert vor sich hin und selbst Alex Jones wirkt ein wenig schockiert. Was sich in diesem Moment abgespielt hat, ist nichts anderes als ein Triumph für den Rechtsextremismus. Ein Schwarzer Super-Star äußert seine Hitler-Sympathie vor laufender Kamera. Endlich schaffen auch Rechte Diversität. Wahrscheinlich ist es nicht ganz so einfach, aber die Strategie geht auf, durch diverse Stimmen Rechtsextremismus und Antisemitismus salonfähig zu machen. Denn direkt nach Ye’s Bekenntnis meldet sich Nick Fuentes mit seinem christlichen Antijudaismus zu Wort. Bemüht versucht er, die vermeintliche jüdische Andersheit durch falsche Paraphrasierungen des Talmuds nachzuzeichnen.
Willkommen in der Twilight-Zone
Selbst Jones muss zugeben, dass er der Handlung nicht mehr folgen kann und seufzt: „Es fühlt sich an wie in der Twilight-Zone.“ Ye spricht derweil davon, dass ein Schmetterlingsnetz (“net”) und eine Trinkschokolade mit dem Namen “Yoohoo” ein kluges Sinnbild für den Namen des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu ergeben. Da niemand so richtig versteht, was sich gerade vor laufender Kamera vollzieht, beschließt Ye, sein Impro-Theater zu steigern, indem er dann Netanjahus Stimme nachahmt.
Doch Ye’s Auftritt bei Jones ist mehr als nur öffentliches Spektakel. Vielmehr geht es darum, die Grenze des Sagbaren zu strecken und rechtsextreme Talking-Points durch Prominente zu platzieren.
Diese Strategie hatte bis vor 3 Tagen auch der US-amerikanische Talk-Show Host Tucker Carlson von Fox News verfolgt. Auch er lud Ye zu einem Gespräch ein – nicht, ohne sich jetzt, nach den jüngsten Ausschweifungen Ye’s, wieder zu distanzieren. Ein ähnliches Bild kann man in republikanischen Sphären beobachten. So reagierten einige Vertreter der Republikanischen Partei am Donnerstag mit lautstarker Empörung auf Ye’s antisemitische Ausschweifungen. Republikaner, die sich einst über die Zusammenarbeit mit dem Rapper und seine lautstarke Unterstützung des Trumpismus zu freuen schienen, zogen eine Grimasse, als Ye mit seiner Hitler-Liebe begann.
Wahrscheinlich hatten all diese rechten Meinungsmacher nicht damit gerechnet, dass Ye ihre hasserfüllten Agenden so explizit und ungefiltert verkörpern würde. Chiffrierte Sprache, geistige Brandstiftung, virulenter Verschwörungsglauben sind passabel – aber Ye’s unmissverständlichen, expliziten Botschaften, die sind dann wieder tabu. Selbst Rechtsextremist*innen müssen wohl erkennen, dass sie ihre Sprachrohre nicht so kontrollieren können, wie sie es gerne hätten. Denn was Ye gestern eigentlich geschafft hat, ist die plausible Bestreitbarkeit der amerikanischen Rechten durch seine antisemitische Rhetorik und seine Hitler-Lobhudeleien eigenhändig zu zerstören.