Mehr als fünf Jahre ist es her, dass im August und September 2018 militante rechtsextreme Gruppierungen aus ganz Deutschland in Chemnitz Jagd auf migrantisch gelesene Personen und Geflüchtete machten. Die Bilder von Menschen, die vor dem Karl-Marx-Monument unverhohlen Hitlergrüße zeigten, sich mit dem parlamentarischem Arm von Rechtsaußen, Björn Höcke und Co., verbündeten und vor einer überforderten Polizei durch die Stadt zogen, gingen um die ganze Welt. Für ein paar Wochen war Chemnitz in aller Munde. Ein Paradebeispiel für die gute Vernetzung und Mobilisierungsfähigkeit von Rechtsaußen und eine gefährliche Antwort auf die Frage, was passiert, wenn sich besorgte Bürger*innen, Neonazis und AfDler zusammenschließen, um gegen marginalisierte Personen zu hetzen.
Den Betroffenen gehen diese Erfahrungen wahrscheinlich nie mehr aus dem Gedächtnis. Erst im Dezember 2023, über fünf Jahre später, begann der erste Prozess zu den Ausschreitungen. Insgesamt 27 Angeklagte müssen sich im Rahmen von drei Prozessblöcken als Teilnehmende der Demonstrationszüge von 2018 nun wegen Landfriedensbruch verantworten.
Alles egal
Was hat sich seit den Demos in Chemnitz verändert und wie sieht das Leben in der drittgrößten Stadt Sachsens heute aus? „Kleinstädtisch“ antworten darauf Vertreter*innen von Chemnitz Nazifrei im Gespräch mit Belltower.News. Damit beziehen sie sich auf das generelle Lebensgefühl in der Stadt mit dem europaweit höchsten Altersdurchschnitt, als auch auf die politischen Strukturen vor Ort. Chemnitz Nazifrei ist ein wichtiger Partner im antifaschistischen zivilgesellschaftlichen Bündnissen und setzt sich seit Jahren gegen menschenverachtende und diskriminierende Ideologien vor Ort ein. Sowohl durch den hohen Altersdurchschnitt als auch die Ostsozialisation vieler Einwohner*innen sei vielen Menschen in Chemnitz sehr viel sehr egal, besonders wenn es um das Politische gehe, so die Aktivist*innen.
Ein paar Wochen lang im Sommer 2018 war das anders. Ein internationaler Aufschrei folgte auf die Videos und Fotos über die rechtsextremen, militanten Ausschreitungen in der Stadt. Nach dem Mord an Daniel H. mobilisierten rechte Netzwerke aus Ost- und Westdeutschland und sogar Österreich über Wochen hinweg in die Stadt, zu Demonstrationszügen, aber auch Hetzjagden auf migrantisch gelesene Personen. Chemnitz wurde in Diskussionsrunden und Leitartikeln ein Symbol für die rechte Vereinnahmung einer Stadt, gegen die die demokratische Zivilgesellschaft zu wenig unternimmt. Kampagnen wie „Chemnitz ist weder grau noch braun“ und „Wir sind mehr“ sollten das ändern, Versprechen zur Aufarbeitung des schrecklichen Sommers wurden laut, und führten schließlich zur Ernennung von Chemnitz zur Kulturhauptstadt 2025. Inzwischen sind ebenjene Bilder, die 2018 noch um die halbe Welt gingen, kaum mehr im Umlauf, und es scheint, als hätte sich alles wieder gelegt. Doch was ist geblieben?
Rechte Erlebniswelt Chemnitz
Die Ausschreitungen gelten als skandalöse Einzelfälle in der Geschichte der Stadt. Ein Blick in die Stadtgeschichte im Laufe der letzten Jahrzehnte zeigt allerdings eine lange Kontinuität der extremen Rechten. Von Unterstützer*innen des NSU, zu der rechtsextremen Hooligan-Gruppe „HooNaRa“ über die verhinderten Rechtsterrorist*innen von „Revolution Chemnitz“, bis zu den monatelangen Demonstrationen und Ausschreitungen 2018: In Chemnitz konnten rechte Strukturen und Einzelpersonen sehr lange sehr ruhig arbeiten, politisieren und Netzwerke aufbauen, erklären Aktivist*innen von Chemnitz Nazifrei.
Sie sprechen von einer „rechten Erlebniswelt“, in der sich von Wohnung bis Arbeit und Nachtleben Strukturen für Menschen im rechten Milieu etablieren konnten. Jene Strukturen träfen dann auf eine große Politikverdrossenheit in der Bevölkerung, die mit jeder Form der Politik, auch einer menschenfeindlichen, in Ruhe gelassen werden wolle. Die Zivilgesellschaft habe über Jahre hinweg still zugesehen, wie sich rechte Nachbarschaften und rechtspopulistische Meinungen etabliert haben. Gleichzeitig sei die Wahrnehmung, wo sich „unpolitisch“ auf dem politischen Spektrum befände, deutlich nach rechts gerückt, so dass klar rechte Aussagen häufig noch als unpolitisch gewertet und toleriert würden.
Vor allem für marginalisierte Personen war das Leben auch schon vor den Demos von 2018 in Chemnitz nicht leicht, und so ist es auch geblieben. Eine Person, welche die Solidaritätskampagne Solichemnitz2018 ins Leben gerufen hat, findet klare Worte: „Für uns Betroffene war die Zeit auf jeden Fall geprägt von Angst und Verzweiflung. Besonders in dieser Woche der rechten Massenmobilisierungen, wobei Faschist*innen aus allen Bundesländern und Österreich nach Chemnitz kamen, dachten wir uns: ‚Menschen werden hier sterben‘“. Dass dies nicht passiert ist, sei auch viel Glück gewesen, da das Gefährdungs- und Radikalisierungspotenzial vor Ort sehr hoch gewesen sei. Gewaltbereite Neonazis zogen durch die Straßen, um ihre „Menschenverachtung in die Tat umzusetzen“. Es ist kein Wunder, dass im Demomob auch der spätere Mörder von Walter Lübcke mitmarschiert. Seit Dezember 2023 unterstützt die Solidaritätskampagne Chemnitz 2018: Kein Vergeben. Kein Vergessen die Betroffenen der rechten Gewalt von 2018, und stellt Hintergrundinformationen und Recherchen zusammen.
Kulturhauptstadt trotz mangelnder Aufarbeitung
Während die Stadt Chemnitz sich heute mit dem Titel „Kulturhauptstadt 2025“ schmückt, kommt die versprochene Aufarbeitung von 2018 noch immer nicht voran. Stattdessen habe man das Gefühl, die Stadt habe eher gelernt, sich rauszuhalten und so still wie möglich zu sein, beschreibt Chemnitz Nazifrei: „Wir malen alles ein bisschen bunt an, dann sehen die Gäste die Nazis nicht mehr“. Die geringe Priorisierung der Aufarbeitung betrifft auch die juristische Aufarbeitung. Der erste Prozessblock begann im November 2023, zwei weitere stehen noch aus.
Für die Gesprächspartner*in von Solichemnitz2018 handelt es sich um „politische Verschleppung“ und zeige den „politischen Unwillen der Stadt, das Thema zu behandeln“. Die Betroffenen seien über fünf Jahre allein gelassen worden, und die Strafen würden höchstwahrscheinlich niedrig ausfallen. Das befürchten auch die Vertreter*innen von Chemnitz Nazifrei und ergänzen: „Es ist einfach bezeichnend, wenn sich Neonazis aus dem ganzen Bundesgebiet zusammenrotten, um migrantische Personen zu jagen, und dann fünf Jahre später mit einer leichten Strafe davonkommen. Zeug*innen und Betroffene können aufgrund der vielen Jahre nun keine guten Aussagen mehr machen, bei keiner der angeklagten Personen fanden Hausdurchsuchungen statt. Das finden wir skandalös, und deswegen ist es das Mindeste, die Betroffenen zu unterstützen und begleiten.“
„Wir denken nicht daran, aufzugeben“
Obwohl das zivilgesellschaftliche Engagement in Chemnitz inzwischen die kurze Phase der Politisierung hinter sich gelassen hat und inzwischen wieder vielen Menschen vieles egal ist, hat sich seit 2018 doch etwas verändert in der Stadt: Man habe Schlüsse aus der Zeit gezogen, sowohl zur eigenen Arbeit als auch der Wirkweise von rechten Massenmobilisierungen. Die Strategie der extremen Rechten seit 2018 kann auch als eine Konsequenz der Erfolge von damals verstanden werden, als die Szene für eine Zeit lang das Gefühl hatte, sie habe die Macht in dieser Stadt. Dabei sei nicht nur der große Rückhalt der Rechten untereinander entscheidend, sondern eben auch der geringe Widerstand einer zu schwachen Linken vor Ort. Die Drohung, in Chemnitz im Jahr der Kulturhauptstadt 2025 ein zweites 2018 zu provozieren, sei von rechter Seite schon mehrmals gefallen, so Chemnitz Nazifrei.
Trotzdem- man sei nun besser vorbereitet, und das vor allem durch antifaschistische Netzwerk- und Recherchearbeit: „Wir haben gelernt, dass wir nicht gut vorbereitet waren. Uns hat damals Vernetzung gefehlt, so dass wir viel zu spät verstanden haben dass es nicht primär uns als Linke, sondern migrantische und von Rassismus betroffene Personen trifft. Wir haben 2018 mal wieder gelernt, dass uns die Polizei nicht schützt, der Verfassungsschutz und die Stadt waren nicht auf unserer Seite“, formulieren Chemnitz Nazifrei. All diese Erkenntnisse nehmen sie nun auch mit ins Wahljahr 2024. Viel Zeit werden sie wohl wieder mit dem verbringen, was sie immer tun, nämlich Politik und ein Reagieren auf die Verhältnisse vor Ort.
Auf die Frage, ob sie mit Blick auf den stattfindenden Rechtsruck deutschland- und europaweit überhaupt noch Hoffnung haben, finden die Aktivist*innen klare Worte: „Wir glauben, dass es eine bessere Welt geben könnte. Und wir sind überzeugt, dass es Menschen braucht, die dafür kämpfen. Deshalb tun wir das. Deshalb denken wir auch gar nicht daran, aufzugeben.“
Die Arbeit gegen rechte Strukturen darf nicht länger abstrakt bleiben: „Wer 2024 in ostdeutschen Städten unterstützen möchte, der muss herziehen“, erklären die Aktivist*innen. Sich vor Ort zu engagieren, organisieren und mitzumachen, sei der größte Support, den man ihnen geben kann. Und falls das gerade nicht möglich ist: „Freundet euch mit uns an, mit denen die euch wichtig sind. Freundschaften sind die besten Verbindungen die am längsten halten. Darüber hinaus ist es die beste Unterstützung, auf Augenhöhe mit uns zu arbeiten und füreinander da zu sein, egal ob hier oder von außerhalb“.