Seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie wurde viel über die zunehmende Radikalisierung der „Querdenken“-Szene berichtet. Den traurigen Höhepunkt markierte zuletzt der Mord an einem jungen Studenten in Idar-Oberstein. Kurz zuvor sorgte das CDU-Wahlwerbevideo mit einem Querdenker im Gespräch mit CDU-Bundeskanzlerkandidat Armin Laschet für Aufsehen. Doch generell hielten sich die Parteien während des Wahlkampfs zurück mit Kritik an der impfgegnerischen Szene. Während für Menschen mit Rollstuhl oder Hijab der Gang zur Wahlurne in manchen Orten verunmöglicht wurde, wurden für die Stimmabgabe von Maskenverweigerer:innen mancherorts Wahllokale gesperrt.
Barrieren für Menschen mit Behinderung
„Behindert ist man nicht, sondern man wird behindert“. Diesen Slogan prägte die Behindertenbewegung und er hat an Aktualität kaum verloren. Erst im April 2019 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Menschen mit kognitiver Behinderung, die eine Vollbetreuung benötigen, auf Bundes- und Europaebene endlich mitentscheiden dürfen. Hierfür darf nun unter Hilfestellung einer Begleitperson die Stimmabgabe erfolgen. Dies betrifft bundesweit etwa 85.000 Personen. Soviel zur Theorie. Denn auch bei den Bundestagswahlen 2021 gab es massive Hindernisse bei der Stimmabgabe.
Zum einen bestehen weiterhin viele physische Barrieren, wie etwa fehlende Fahrstühle oder Rampen. Aber auch zu dunkles Licht in den Wahlkabinen stellt ein Problem dar. Ob ein Wahllokal barrierefrei ist, müssen Betroffene, außer in Berlin, selbst herausfinden. Oftmals scheitert die Stimmabgabe auch schlicht an der fehlenden Bereitstellung von Informationen. Die Websites der Parteien sind kaum barrierefrei gestaltet, wie beispielsweise fehlende Bildunterschriften oder die Möglichkeit, bestimmte Farbkontraste zu ändern, zeigen. Wahlwerbespots mit Untertitel oder mit Gebärdensprache sind ebenfalls nicht vorhanden. Noch kurz vor den Wahlen mahnte der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, dass die fehlende Barrierefreiheit in allen Wahllokalen 13 Millionen Menschen in Deutschland betrifft, denen so die volle Inklusion verweigert wird.
Frau mit Hijab Zugang zur Wahllokalen verwehrt
Wie durch ein Video in den sozialen Medien bekannt wurde, wurde eine 21-jährige Frau zweimal der Zutritt zum Wahllokal verwehrt, da sie Hijab und Maske trug. Der Grund: das Verschleierungsverbot. Laut diesem Verbot muss jeder Wähler und jede Wählerin eindeutig identifizierbar sein, was bei der Frau angeblich nicht der Fall war. Auf Twitter trendete daraufhin der Hashtag „Bergheim“, unter dem sich viele User:innen über diesen antimuslimischen Rassismus empören.
Extrawurst für „Querdenker:innen”?
Auf der anderen Seite wurde schon vor dem Wahlsonntag über mögliche Eskalationen mit Maskenverweigerer:innen spekuliert. Nun wurde bekannt, dass die Nichteinhaltung der Maskenpflicht in mehreren deutschen Städten für Polizeieinsätze gesorgt hat.
In Berlin-Moabit kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei Wählerinnen und Wahlhelfer:innen. Nachdem die anderen Wähler:innen das Lokal verlassen hatten, durften die beiden Frauen ohne Maske noch ihre Stimmen abzugeben. In NRW wurde die Idee mobiler Wahlurnen diskutiert, nach Rücksprache mit dem zuständigen Wahlleiter jedoch verworfen. Stattdessen wurde hier ebenfalls die Möglichkeit geboten, für maskenbefreite Wähler:innen den Raum zeitweise freizumachen.
Doppelte Standards?
Natürlich soll allen wahlberechtigten Personen in Deutschland der Zutritt zur Wahlurne offenstehen. Jedoch ist bekannt, dass etlichen Coronaleugner:innen falsche Atteste ausgestellt wurden von sympathisierenden Ärzt:innen. Außerdem bedeutet die temporäre Sperrung der Wahllokale für Menschen ohne Maske, zeitgleich auch den Ausschluss für Menschen mit Maske. So wird das Wählen ohne Maske zu einer bewussten Störung der Wahlen für alle.
Unterschiedliche Polizeireaktionen dazu in Berlin:
Wobei „alle“ in Deutschland eh nicht wählen dürfen: 11,4 Millionen Menschen, die teilweise jahrzehntelang in Deutschland leben und Steuern zahlen, werden aufgrund einer ausländischen Staatsangehörigkeit oder Staatenlosigkeit von den Wahlen ausgeschlossen. Deutsche mit Migrationsgeschichte mussten beim Wählen Rassismus über sich ergehen lassen. Und bei Menschen mit Behinderung kam es sehr bitter an, dass für Maskenverweigerer:innen über Wahlurnen draußen unter freiem Himmel diskutiert wurde, was Behindertenrechtsorganisationen schon lange fordern, ohne dass es bisher in Betracht gezogen wurde.
Dies legt den Verdacht nah, dass die „Querdenker:innen“ zumindest eines geschafft haben: Auf Angst vor ihrem „Wahlbetrugs“-Geschrei und ihrer Inszenierung der selbstgewählten vermeintlichen Diskriminierung wurden mehr Zugeständnisse gemacht als gegenüber Menschen, die sich an demokratische Spielregeln halten.
Aber nicht nur der Umgang in der „heißen Phase“ des Wahlkampfs legt den Verdacht doppelter Standards beim Umgang mit „Querdenker:innen“ nahe. Zuletzt wurden etliche Ausschreitungen bei Demonstrationen geduldet, weil die Polizei nicht durchgriff, weil sie sich nach eigenen Angaben „verschätzt“ hatte. Friedliche Antirassismus-Demonstrationen, etwa nach dem rechtsextremen Anschlag in Hanau 2020, werden dagegen potenziell wie Gefährder-Demonstrationen behandelt. Die Vermutung liegt nahe, dass manche Wähler:innen wichtiger zu sein scheinen, als andere.