Eigentlich hält sich Vili Viorel Păun so gut wie nie im Hanauer Stadtteil Kesselstadt auf: Der 23-jährige Rom hat dort keine Freund*innen, er wohnt mit seinen Eltern in der Innenstadt. Doch in dieser Nacht, am 19. Februar 2020, kommt es anders. Vor einem Kiosk und der „Arena Bar“ am dortigen Kurt-Schumacher-Platz schießt ein rechtsextremer Attentäter kurz nach 22:00 sieben Mal auf ihn. Drei der Schüsse gehen durch die Windschutzscheibe seines silbernen Mercedes hindurch, sie treffen ihn tödlich. Der Motor läuft noch.
In dieser Nacht sterben in Hanau insgesamt neun Menschen, die sich größtenteils nicht kennen. Erst durch das Attentat verbindet sich ihr Schicksal: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Vili Viorel Păun. Weitere Menschen werden verletzt, teils schwer. Sie kommen aus Deutschland, Rumänien, Bulgarien, haben Wurzeln in verschiedenen Kulturen und Ländern. Doch für alle war Hanau ein Zuhause. Und alle wurden Opfer eines mörderischen Rassisten.
Kesselstadt ist der zweite Tatort in dieser Februarnacht: Circa zehn Minuten zuvor, um 21:50, eröffnet der Attentäter das Feuer in der Bar „La Votre“ und der Shisha-Lounge „Midnight“ am Hanauer Heumarkt – ein Steinwurf von Păuns Wohnung entfernt. Drei Menschen sterben dabei. Später wird sein Vater, Niculescu Păun, sagen, er glaube, die Schüsse zu Hause gehört zu haben. Auf der Flucht fährt ein silbernes Auto an dem Attentäter vorbei: Alle Indizien deuten darauf hin, dass Vili Viorel Păun der Fahrer ist, der nach einem langen Tag als Kurier für ein Versandunternehmen, ausgerechnet nach einem Tag, an dem er bereits einen Verkehrsunfall hatte, fast zu Hause angekommen ist.
Păun kommt nie an, sein Feierabend kann nie beginnen, stattdessen gerät er ins Kreuzfeuer des Täters am Heumarkt – so sieht man es in einem acht sekündigen Überwachungsvideo. Doch Păun flieht nicht. Er wendet sein Auto, versucht, sich dem Täter in den Weg zu stellen und verfolgt ihn – nach Kesselstadt. Dreimal wählt Păun unterwegs die 110, dreimal kommt er nicht durch. Kurze Zeit später ist er tot. Heute markiert ein Kreuz mit seinem Namen den Todesort – ein Denkmal um Păuns Zivilcourage zu würdigen.
Păun ist nicht der Einzige, dessen Notrufe an diesem Abend ins Leere laufen: Zwischen 21:55 und 22:09 werden lediglich fünf Anrufe überhaupt beim polizeilichen Notruf registriert. Denn die 110 ist, wie viele Zeug*innen später berichten werden, gar nicht erreichbar. Die Gründe: ein hohes Anrufaufkommen, ein veraltetes Telefonsystem, eine unterbesetzte Notrufstelle. Tatsachen, die im starken Widerspruch zur Behauptung des hessischen Innenministers Peter Beuth (CDU) stehen, dass der Polizeieinsatz und die Betreuung der Angehörigen „optimal“ verlaufen sei.
Umleitung? Fehlanzeige
Inzwischen zeigen Dokumente, wie das ARD-Magazin Monitor berichtet, dass in dieser Nacht an nur zwei Apparaten Notrufe entgegengenommen werden konnten – und dass diese nicht einmal durchgängig besetzt waren. Viele erfolglose Anrufversuche wurden zudem überhaupt nicht registriert. Dieses Versäumnis hat der Innenminister Beuth inzwischen bestätigt. Hinzu kommt, dass eine Rufumleitung zum Tatzeitpunkt nicht eingerichtet war. Das hat offenbar technische Gründe: Polizeiliche Notrufe in Hessen sollen in einer Leitstelle zentralisiert werden, eine Modernisierung, die allerdings noch nicht fertiggestellt wurde. Die Hanauer Staatsanwaltschaft hat inzwischen ein Prüfverfahren wegen der Nichterreichbarkeit des Notrufes eingeleitet. Und ein Jahr nach dem Anschlag ist das Problem immer noch nicht behoben worden: Die Polizei teilt auf Nachfrage des Monitor nur mit, dass ein „Überleitungssystem“ für Notrufe immer noch „geplant“ sei.
So häufen sich zum ersten Gedenktag des rassistischen Anschlags viele Fragen: Warum können Notrufe in Hanau immer noch nicht umgeleitet werden, obwohl dies eigentlich seit Jahrzehnten Standard in der Bundesrepublik ist, wie Expert*innen berichten? Wäre der Polizeinotruf erreichbar gewesen, hätte der weitere Verlauf des Anschlags verhindert werden können? Würde Vili Viorel Păun heute noch leben? Konnte Păun durch seine Verfolgung des Täters noch mehr Tote in der Innenstadt verhindern? Ohne einen Prozess, da der Täter sich selbst erschoss, bleibt zweifelhaft, wie viele dieser Fragen ausreichend beantwortet werden können. Die wenigen Antworten bislang kamen nicht von den Behörden, sondern von selbstorganisierten Gruppen wie der „Initiative 19. Februar Hanau“ sowie von kritischen Journalist*innen. Doch ein Jahr später gibt es weiterhin Unklarheiten.
So konnte bis heute nicht geklärt werden, warum der Notausgang der „Arena Bar“ verschlossen war. Die Besucher*innen des Lokals saßen in einer wortwörtlichen Falle, als der rassistische Attentäter bewaffnet anrückte. Wäre die Tür nicht verschlossen gewesen, wären heute Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović am Leben? Der Notausgang, der einzige Fluchtweg im Lokal, war nicht zum ersten Mal verschlossen, wie ein Stammgast der Presse später erzählte. „Das wusste jeder, der tagtäglich hier ein und aus ging“, sagte Etris Hashemi der Tagesschau. Eine der Erklärungen dafür ist besonders brisant: Die Polizei soll angeordnet haben, den Notausgang zu verschließen, um die Flucht von Gästen bei Razzien zu verhindern. Das behaupten zumindest Gäste der Bar in ihren Strafanzeigen sowie gegenüber den Medien.
Das Polizeipräsidium Südosthessen weist den Vorwurf zurück: „Grundsätzlich ergeht durch die Polizei niemals eine Weisung oder Aufforderung, Notausgänge zu verschließen oder auf andere Weise zu versperren“, heißt es von der Pressestelle. Doch die Polizei wusste zumindest bereits, dass der Notausgang verschlossen war: Das stellten Polizeibeamt*innen bei einer Kontrolle im November 2017 fest, sie teilten die Information auch dem Gewerbeamt der Stadt Hanau mit. Viereinhalb Stunden nach dem Anschlag am 19. Februar 2020 notierten die eingetroffenen Kriminalbeamten den verschlossenen Notausgang wieder – was kurioserweise zunächst nicht Gegenstand der Ermittlungen war. Erst neun Monate später, im November 2020, nachdem Hinterbliebene und Überlebende eine Anzeige gegen Unbekannt wegen fahrlässiger Tötung stellten, weil die Gäste der Bar sich wegen des verschlossenen Notausgangs nicht in Sicherheit bringen konnten, eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Verfahren.
Was wusste die Polizei?
Ist dieses Versäumnis auf schlampige Ermittlungen zurückzuführen oder sollte etwas vertuscht werden? Spekulationen gibt es viele, Belege wenige. Nancy Faeser, Chefin der SPD in Hessen, will Antworten: „Ich erwarte, dass die Ermittlungsbehörden rückhaltlos aufklären, ob der Notausgang tatsächlich verschlossen war und wer dafür die Verantwortung trägt“, sagte sie im Januar 2021 auf einer Pressekonferenz in Wiesbaden. „Interessant wäre auch zu erfahren, wieso das wichtige Detail des mutmaßlich verschlossenen Notausgangs erst durch die Strafanzeigen der Angehörigen zum Thema wurde und nicht schon vorher Gegenstand der Ermittlungen war.“ Armin Kurtović, dessen Sohn Hamza in der „Arena Bar“ ermordet wurde, ist fassungslos. „Wieso wird nicht von Amts wegen ermittelt? Alle sagen, die Polizei wusste, dass der Notausgang abgeschlossen ist. Ich will es nicht aussprechen, aber wenn man das alles zusammen nimmt, habe ich für mich keine andere Erklärung, als dass es vertuscht werden sollte“, sagte Kurtović der Tagesschau.
Vor allem eine Frage dürfte für Überlebende und Hinterbliebene besonders schwer zu verstehen sein: Warum durfte der Täter legal Waffen besitzen? Ein Mann, der 2002 in die Psychiatrie eingewiesen worden war, der mehrere wahnhafte Strafanzeigen stellte, weil er glaubte, von ausländischen Geheimdiensten verfolgt zu werden, der 2007 einen Wachmann angegriffen haben soll, der 2010 und 2018 Gegenstand von Ermittlungen wegen Drogenschmuggels war, dem fahrlässige Brandstiftung vorgeworfen wurde, nachdem er nachts im Wald Pornohefte verbrannte, der 2019 mindestens zwei bewaffnete Gefechtstrainings mit Ausbildern ehemaliger Militäreinheiten und Spezialeinsatzkräfte in der Slowakei absolvierte. Ein Lebenslauf voller Warnungen.
Doch im April 2013 konnte der Täter erfolgreich seinen ersten Antrag bei der Waffenbehörde stellen, willigte sogar ein, dass das Gesundheitsamt wegen Erkenntnissen zu psychischen Erkrankungen kontaktiert werden durfte – was aber nicht passierte. Denn ein Jahr zuvor wies der hessische Innenminister Boris Rhein (CDU) nach einer bundesweiten Verwaltungsvorschrift per Erlass an, keine Regelanfragen mehr beim Gesundheitsamt zu stellen, sondern nur „bei konkretem Anlass“ nachzufragen. So bekam der Täter seine grüne Waffenbesitzkarte, auf welcher der Bedürfnisgrund „Jäger“ stand – wohl ein amtlicher Fehler. Der Täter kaufte damit eine „SIG Sauer P226“ Selbstladepistole. 2018 folgte seine zweite Waffenbesitzkarte, die gelbe, mit der er eine „Walther PPQ“ kaufte (PPQ steht für „Polizeipistole Quick-Defence“). Im August 2019 bekam er dann den „Europäischen Feuerwaffenpass“, seine dritte waffenrechtliche Erlaubnis, mit der er seine Waffen durch Europa legal transportieren durfte.
Sechs Monate später lieh er sich eine „Czeska 75 Shadow“ von einem Waffenhändler. Mit diesen Waffen erschoss er neun Menschen aus einem rassistischen Motiv, bevor er seine Mutter und schließlich sich selbst umbrachte. Der Vater des Täters, der ebenfalls glaubt, sein Sohn sei Opfer einer weltweit agierenden Geheimorganisation, forderte einige Monate nach dem Anschlag die Tatwaffen und Munition zurück. Nach dem Anschlag sollten die Regelungen zum Waffenbesitz verschärft werden: So enthält die Zuverlässigkeitsprüfung inzwischen eine Abfrage beim Verfassungsschutz. Doch Ende Dezember 2020 wussten die Sicherheitsbehörden von 1200 tatsächlichen oder mutmaßlichen Rechtsextremen, die legal Waffen besitzen, wie sich die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion ergab – ein Anstieg von 35 Prozent im Vergleich zu Ende 2019. Ein Jahr nach Hanau bleibt „nie wieder“ nichts mehr als eine hohle Phrase. Die Frage ist nicht ob, sondern wann der nächste Anschlag kommt.
* Aus Respekt gegenüber den Betroffenen und ihren Angehörigen, und um ihm keine Bühne zu bieten, mit der er Nachahmer animieren kann, verzichtet dieser Text bewusst darauf, den Namen des Attentäters zu nennen.
Schwerpunkt Februar 2021: Rechtsterrorismus
Im Februar 2021 beschäftigt sich Belltower.News vertieft mit dem Thema Rechtsterrorismus. Im Schwerpunkt sind erschienen:
- Neue Urteile gegen die „Gruppe Freital“
- Neuköllner Anschlagsserie – Täter bleiben frei, Strukturen aktiv
- Rechtsextremismus in der Bundeswehr: „Selbstermächtigung ist in der DNA des KSK“
- Neue Broschüre zu rechtsterroristischen Online-Subkulturen und Gegenstrategien
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