Rechtsextreme hassen nicht nur Jüdinnen und Juden, aber sie hassen immer auch Jüdinnen und Juden. Antisemitismus ist ein zentrales Element des Rechtsextremismus. Entweder ganz direkt, mit Bezug auf den Nationalsozialismus, oder auch über rechtsextremer Verschwörungserzählungen wie den „großen Austausch“, bei dem Jüdinnen und Juden als „Elite, die die Fäden ziehen“ imaginiert werden, die hinter angeblich gesteuerten Migrationsbewegungen auf der Welt stehen.
Viele Verschwörungsideolog*innen, egal ob sie sich als rechtsextrem oder antisemitisch bezeichnen würden, glauben an antisemitische Erzählungen – bei „QAnon“ sind es die „jüdischen Eliten“, die Kinder versklaven und ihr Blut trinken, bei anderen Verschwörungserzählungen zu COVID-19 manipulieren angeblich jüdisch definierte Prominente wie George Soros oder Bill Gates mit 5G oder Impfungen, weil sie in der Erzählung alle Menschen chippen wollten, um die Welt zu beherrschen. Es sind immer neu aufgelegte Varianten uralter antisemitischer Ressentiments, die aktuell aber wieder massiv Verbreitung in der Gesamtbevölkerung finden.
Islamistischer Antisemitismus, der ebenfalls an das paranoide Bild von Jüdinnen und Juden als „heimliche Herrschende“ der Welt glaubt, kommt auch noch dazu.
In Deutschland wissen wir, wo solche antisemitischen Verschwörungserzählungen und Allmachtsfantasien enden können: im Holocaust wurde versucht, jüdisches Leben durch organisierten Massenmord auszurotten. Als die Nationalsozialisten besiegt waren, gab es kaum noch jüdisches Leben in Deutschland. Jede Wiederbelebung verdient Schutz.
Deutschland hat versucht, aus dieser Schuld zu lernen, doch es gibt Momente, die Zweifel auslösen, wie viel wir wirklich verstanden haben. Angesichts der gerade skizzierten, hochproblematischen Gemenge-Lage des aktuellen Erstarkens von antisemitischem Gedankengut: Tut die deutsche Gesellschaft aktuell alles oder auch nur genug, um jüdisches Leben in Deutschland zu schützen?
An diesem Wochenende, kurz bevor sich das rechtsextreme, antisemitische Attentat von Halle am 09. Oktober 2020 zum ersten Mal jährt, haben sich bundesweit diverse Antisemit*innen motiviert gefühlt, Jüdinnen und Juden in Deutschland zu bedrohen und Gewalt anzuwenden.
Hamburg
In der Synagoge in Hamburg-Eimsbüttel wurde am Sonntag Sukkot, das Laubhüttenfest, gefeiert. Ein 26-jähriger Student, durch seine Kippa als jüdisch zu erkennen, wollte das Fest besuchen. Jetzt liegt er im Krankenhaus. Ein 29-Jähriger Mann in militärischer Kleidung – offenbar eine Bundeswehr-Uniform – griff ihn mit einem Klappspaten an, schlug ihn auf den Kopf und verletzte ihn schwer. Der Sicherheitsdienst der Synagoge setzte den Täter fest, die Polizei verhaftete ihn. In seiner Jackentasche fand sich nach Angaben der Deutschen Presseagentur dpa offenbar die Zeichnung eines Hakenkreuzes. Dass sich die Polizei zunächst trotz der Tatsache, dass es sich um einen Angriff auf einen jüdischen Mann an einem jüdischen Feiertag vor einer Synagoge ein Jahr nach einem antisemitischen Attentat auf eine Synagoge, ausgeführt durch einen Täter mit einer Hakenkreuzzeichnung in der Tasche, trotzdem nicht auf einen antisemitischen Hintergrund der Tat festlegen wollte, mutet absurd an.
Die Hamburger Synagoge ist mit rund 3.000 Mitgliedern einer der größten Deutschlands, sie wird von einem Wachdienst der Gemeinde und von einem Wachposten der Polizei geschützt. Dass der Täter sich einen solchen Ort für einen Angriff aussucht, spricht von der neuen Hemmungslosigkeit der Antisemiten. Über den Täter ist bisher bekannt, dass er ein Deutscher kasachischer Herkunft sein soll. Er wohnte offenbar bis 2019 in Berlin, jetzt in Hamburg-Langenhorn. Während online bereits vor allem von rechtalternativer Seite munter rassistische und muslimfeindliche Spekulationen geführt werden, hat nichts davon Einfluss darauf, dass es sich um eine antisemitisch motivierte Gewalttat handelt.
Berlin
In Berlin war am Freitag bekannt geworden, dass eine Schriftrolle im Eingangsbereich einer Berliner Synagoge herausgebrochen und mit Hakenkreuzen beschmiert worden ist. Wie die „Jüdische Allgemeine“ am Freitag berichtete, wurde in der Synagoge Tiferet Israel Berlin in Charlottenburg die Mesusa – ein beschriebenes Pergament, das in einer Kapsel im Türpfosten befestigt ist – herausgenommen und auf beiden Seiten mit Hakenkreuzen beschmiert. Die antisemitische Tat soll sich zwischen den jüdischen Feiertagen Rosch Haschana (18.-20. September) und Jom Kippur (27./28. September) ereignet haben. Am Donnerstagabend hatte ein Mitglied der jüdischen Gemeinde die Tat bemerkt. Die Befestigung der Schriftrolle am Türpfosten sei aufgebrochen und falsch herum wieder angebracht worden (vgl. rbb).
Wetzlar
In der Colchesteranlage in Wetzlar war eine Ausstellung von Bildern von jüdischen Sportler*innen zu sehen. Die Ausstellung wurde gewaltsam zerstört. Die Porträts der Sportler*innen wurden von den Sockeln getreten.
Halle
In Halle ist in der Nacht zu Montag das Denkmal für die von den Nationalsozialisten zerstörte Synagoge am Jerusalemer Platz beschädigt worden. Eine 36-jährige Frau beschmierte das Denkmal mit „Sprüchen“ und wurde dabei von der Polizei geschnappt. Laut Polizeiangaben seien auch hier die „Gründe für die Tat noch unklar“. Die Tat habe nicht dem Denkmal oder jüdischen Bürger*innen gegolten (vgl. DubistHalle.de). Dies erscheint zweifelhaft. Offenbar wurde „Trust no one“ auf das Denkmal geschrieben – was zumindest an zahlreiche Verschwörungserzählungen erinnert.
Der Attentäter von Halle steht gerade vor Gericht
Es gibt immer wieder antisemitische Angriffe in Deutschland (vgl. RIAS), doch die Häufung der Taten während der jüdischen Feiertage lässt hier eine Bekräftigung der antisemitischen Absicht der Täter*innen vermuten (die den Täter*innen bewusst ist, der Polizei aber zumeist offenbar nicht). Am 09. Oktober 2019 versuchte der Attentäter von Halle, in die Synagoge von Halle einzudringen und dort Menschen zu ermorden, während er die Tat live im Internet streamte. Dass es in der trotz des höchsten Feiertags Jom Kippur unbewachten Synagoge nicht zu einem Blutbad kam, war nur einer stabilen Tür und der schlechten Vorbereitung des Attentäters zu verdanken, der danach aus Frustration zwei nicht-jüdische Menschen tötete. Der Prozess zum Attentat, immerhin zeitnah begonnen am 22. Juli 2020, offenbart neben der Ahnungslosigkeit der Ermittlungsbehörden in der digitalen internationalen Rechtsterror-Szene eine erschreckende Unkenntnis und Ignoranz der Polizist*innen gegenüber jüdischem Leben, wie mehrere Zeugen im Landgericht Magdeburg ausgesagt haben (vgl. zum Prozess Belltower.News).
Dabei ist das eine, Rituale an Jom Kippur nicht zu kennen und den Menschen in der Synagoge zu verweigern, das Essen zum abendlichen Fastenbrechen mit aufs Polizeirevier zu nehmen, wo nach der Tat Zeugenaussagen aufgenommen wurden. Das andere ist aber, den Jüdinnen und Juden auch nicht zuzuhören, wenn sie darüber aufklären und ihre Wünsche begründen. Als „geistlicher Beistand“ wurde den traumatisierten Jüd*innen, die in der Synagoge waren, eine katholische Nonne angeboten, was den Jüdinnen und Juden schon aufgrund der Geschichte von Zwangskonversionen zum Christentum sehr unpassend erschien. Viele der Zeug*innen, die zuvor in der Synagoge angegriffen worden waren und Opfer der Tat sind, fühlten sich durch den rüden, verständnislosen Ton der Polizei selbst als Verdächtige behandelt. Es ist schmerzlich, diese Aussagen im Prozess zu hören.
Was tun?
Digitalaktivistin und Bildungsexpertin Marina Weisbrand bringt es auf Twitter so auf den Punkt:
Sie fordert stattdessen folgerichtig:
- Aufklärung rechtsradikaler Strukturen bei der Polizei.
- Sinnvolle Bewachung aller Synagogen.
- Die ausstehenden Haftbefehle gegen Nazis vollstrecken.
- Drohungen (auch online) endlich ernst nehmen und verfolgen.
Hinzufügen könnte man noch: Interreligiöse und interkulturelle Kompetenzen der Polizei stärken. Antisemitismus im Rechtsextremismus, Islamismus, Verschwörungsideologien in seinem Gewaltpotenzial für Jüdinnen und Juden in Deutschland endlich ernst nehmen.
Was geschah nach dem Attentat von Halle?
Nach dem Attentat von Halle waren von der Politik verschiedene Maßnahmen angekündigt worden (vgl. Belltower.News).
- Es hieß, das Bundesprogramm „Demokratie leben“ werde ausgebaut. Schon 2019 hieß es in Wirklichkeit, dass es stattdessen zumindest nicht gekürzt wurde, was zuvor der Plan war. Das zumindest ist auch passiert. Leider wurden diverse Projekte gegen Antisemitismus gestrichen (vgl. Belltower.News).
- Ein „Gesetz gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität“, dass auch eine Verschärfung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes zur besseren Strafverfolgung von Hasskriminalität online beinhaltet, wird voraussichtlich Ende Oktober 2020 verabschiedet. Es bewirkte also noch nichts, es ist ja noch nicht da (vgl. Belltower.News zum Inhalt, zusätzlich NGO-Kritik am Entwurf hier).
- Für die Verfolgung von Hasskriminalität online wollte das BKA 500 neue Mitarbeiter*innen mit diesem Schwerpunkt einstellen. Ob dies bereits passiert ist, und ob die 500 neuen Mitarbeiter*innen mehr machen, als das NetzDG umzusetzen, ist noch unklar.
- Synagogen werden weiterhin sehr unterschiedlich geschützt. Bisher gibt es keine Förderung, um Synagogen bei den immensen Kosten zu unterstützen, die entstehen, wenn die Gemeinden ihren Schutz selbst organisieren (vgl. Belltower.News).
Es gibt also einiges mehr zu tun, als sich wieder zu „erschrecken“ über Antisemitismus in Deutschland, was ohnehin nur möglich ist, wenn ansonsten konsequent jeder „Einzelfall“ nur einzeln gesehen wird.