Am 19. Februar 2020 erschießt in Hanau ein rechtsextremer Attentäter neun Menschen: Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar, Kaloyan Velkov und Vili Viorel Păun. Weitere Menschen werden verletzt, teils schwer. Der Täter kehrt zurück ins Elternhaus. Dort erschießt er seine Mutter, anschließend sich selbst. Zwei Jahre danach sind immer noch viele Fragen offen. Warum liefen Notrufe bei der Polizei ins Leere? Was ist mit dem verschlossenen Notausgang an einem der Tatorte? Warum durfte der verschwörungsideologisch vernetzte Täter, der den Behörden als psychisch krank bekannt war, Waffen besitzen? Was ist mit dem Vater des Täters, der offenbar das rassistische, rechtsextreme Weltbild seines Sohnes teilte? Ermittlungen wurden eingestellt. Die Hoffnungen liegen auf dem Untersuchungsausschuss. Und auf einer Innenministerin, die rechtsextreme Gewalt ernster nimmt als ihr Vorgänger.
Etwa um 21:50 Uhr ist der Täter am 19. Februar 2020 am Hanauer Heumarkt unterwegs. In der Bar „La Votre“ erschießt er Kaloyan Velkov, auf der Straße davor Fatih Saraçoğlu. In der Shisha-Lounge „Midnight“ ermordet er den Inhaber Sedat Gürbüz. Gegen 22 Uhr erschießt der Täter Vili Viorel Păun durch die Windschutzscheibe seines Autos am Kurt-Schuhmacher-Platz. Danach stürmt er einen Kiosk und ermordet Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz und Ferhat Unvar. In der „Arena Bar“ nebenan erschießt er Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović. Danach fährt er zurück zum Haus seiner Eltern, in dem er wohnt, ermordet seine Mutter und anschließend sich selbst.
Notruf unerreichbar
Vili Viorel Păun hatte den Täter wahrscheinlich schon am Heumarkt gesehen und wurde beschossen, doch Păun flieht nicht. Er wendet sein Auto, versucht, sich dem Täter in den Weg zu stellen und verfolgt ihn – nach Kesselstadt. Dreimal wählt Păun unterwegs die 110, dreimal kommt er nicht durch. Er ist nicht der Einzige, dessen Notrufe an diesem Abend ins Leere laufen: Zwischen 21:55 und 22:09 werden lediglich fünf Anrufe überhaupt beim polizeilichen Notruf registriert. Denn die 110 ist, wie viele Zeug:innen später berichten werden, gar nicht erreichbar. Die Gründe: ein hohes Anrufaufkommen, ein veraltetes Telefonsystem, eine unterbesetzte Notrufstelle. Tatsachen, die im starken Widerspruch zur Behauptung des hessischen Innenministers Peter Beuth (CDU) stehen, dass der Polizeieinsatz und die Betreuung der Angehörigen „optimal“ verlaufen sei.
Inzwischen zeigen Dokumente, wie das ARD-Magazin Monitor schon 2021 berichtet, dass in dieser Nacht an nur zwei Apparaten Notrufe entgegengenommen werden konnten – und dass diese nicht einmal durchgängig besetzt waren. Viele erfolglose Anrufversuche wurden zudem überhaupt nicht registriert. Die Hanauer Staatsanwaltschaft hat inzwischen ein Prüfverfahren wegen der Nichterreichbarkeit des Notrufes eingeleitet. 2021 ist das Problem immer noch nicht behoben worden: Die Polizei teilt auf Nachfrage von Monitor nur mit, dass ein „Überleitungssystem“ für Notrufe immer noch „geplant“ sei. 2022, zwei Jahre nach dem Anschlag hat sich offenbar weiterhin nichts getan.
Verschlossener Notausgang — Verfahren eingestellt
Auch die Fragen zum Notausgang in der „Arena Bar“ sind bis heute nicht wirklich geklärt. Am 19. Februar 2020 war der Notausgang vermutlich verschlossen. Für Said Nesar Hashemi und Hamza Kurtović war so der Fluchtweg versperrt. Laut Gerüchten war der Notausgang aufgrund einer polizeilichen Anweisung abgeschlossen. So wollten Beamte angeblich verhindern, dass Gäste bei einer möglichen Razzia unerkannt fliehen könnten.
Zwei Überlebende des Anschlags und Angehörige eines Opfers hatten Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung gegen den Betreiber gestellt. Demnach hätte es keinen direkten Fluchtweg gegeben, der Notausgang sei in der Tatnacht von innen verschlossen gewesen. Für das Abschließen des Notausgangs hätten sich die Hanauer Behörden erkenntlich gezeigt, heißt es in der Anzeige. Strafanzeigen des Ordnungsamts wegen angeblich nicht genehmigter Spielautomaten in der Bar seien unter den Tisch fallen gelassen worden.
Im August 2021 gab die Staatsanwaltschaft Hanau bekannt, dass die Ermittlungen eingestellt worden seien. Ein „hinreichender Anfangsverdacht einer Straftat“ läge nicht vor. Nach „umfangreichen Ermittlungen“ könne kein „strafrechtlich relevantes Verhalten“ des Betreibers und des Mieters der Bar festgestellt werden. Die Staatsanwaltschaft veröffentlichte die Ergebnisse in einer 40-seitigen Erklärung. Dabei gibt es Widersprüche. So sagen etwa mehrere Mitarbeiter, der Notausgang sei immer offen gewesen und unter anderem dazu genutzt worden, Müll wegzubringen, die Besucher der Bar hätten den Notausgang gekannt. Gäste geben allerdings an, der Ausgang sei immer verschlossen gewesen, was auch allgemein bekannt gewesen sei.
Für Absprachen zwischen Behörden und Betreiber fand die Staatsanwaltschaft keine Belege. Ob der Notausgang am Tatabend abgeschlossen gewesen sei, „konnten wir nicht mit absoluter Sicherheit klären“, heißt es bei einer Pressekonferenz. Die Opfer in der Bar waren zu einem Lagerraum geflüchtet, wo sie schließlich erschossen wurden. Ob das geschah, weil sie wussten, dass der Notausgang verschlossen war oder ob sie sich wegen des „natürlichen Fluchtinstinkts weg von der Gefahr hin zu dem Lagerraum bewegten“, könne nicht geklärt werden. Nach den Schüssen im benachbarten Kiosk hätten die Mensch in der Bar nur wenige Sekunden Zeit gehabt, um zu flüchten.
Den Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft widerspricht allerdings ein Gutachten des Recherchekollektivs „Forensic Architecture“, das im Auftrag der „Initiative 19. Februar“, die von Angehörigen der Opfer initiiert wurde, in Auftrag gegeben wurde. „Alle fünf Personen hatten genug Zeit, um durch den Notausgang zu entkommen. Wenn der Notausgang offen gewesen ist, und sie das gewusst hätten, dann hätten sie alle den Anschlag überleben können“, heißt es im Gutachten.
Die Angehörigen und Überlebenden hoffen auf den Untersuchungsausschuss des hessischen Landtages. Said Etris Hashemi wurde in der Bar schwer verletzt: „Der Notausgang war für uns keine Option, weil jedem klar war, dass er zu ist“, sagt er zur Veröffentlichung der Studie. „Diese verschlossene Tür hat meinen Sohn das Leben gekostet“, sagt Armin Kurtović, der Vater des ermordeten Hamza Kurtović. Auch Kim Schröder, eine Überlebende des Anschlags, ist sicher: „Jeder, der in die Bar ging, wusste, dass der Notausgang immer zu war.“
Der Vater als Mitwisser? Verfahren eingestellt
Nach der Tat wurde der Vater des Attentäters festgenommen, war kurz in psychiatrischer Behandlung und wurde verhört. Laut Behördenangaben gab es damals allerdings keine Anhaltspunkte, dass er in die Tat verwickelt war. Der Täter hatte in einem wirren Text, den er auf seiner Website veröffentlichte behauptet, er würde von einer Geheimdienst-Organsiation beobachtet und gequält. Im Verhör bestätigte der Vater die Geschichte seines Sohnes, offenbar eine Erzählung, die lange Jahre in der Familie geläufig war. Vor der Terrortat hatte der Sohn mehrere Anzeigen gegen die ominöse Geheimorganisation gestellt, die ihn angeblich beobachtete. Und schon 2004 hatten Vater und Sohn gemeinsam eine Anzeige wegen angeblicher Geheimdienstbespitzelung gestellt.
Über die Jahre taucht der Name des Täters 15 mal in polizeilichen und staatsanwaltlichen Akten auf. Fünfmal als Beschuldigter: bei Gewalttaten, Drogendelikten und Betrug. Mindestens einmal wurde er zwangsweise in eine Psychiatrie eingewiesen. Die Waffen, mit denen er zehn Menschen ermordete, hatte er trotzdem ganz legal. Recherchen des Spiegel zeigen, dass er aufgrund mangelhafter Zusammenarbeit von Behörden und Verwaltungsvorschriften, die eine laxe Auslegung des Waffenrechts erlauben, bis zuletzt zwei Waffenbesitzkarten besaß.
Schon kurz nach der Tat am 19. Februar wurde klar, dass der Vater auch weiterhin einem kruden und zutiefst rassistischen Weltbild anhängt. Mehrmals versuchte er offenbar, Ermittlungen zu verhindern und wehrte sich gegen die Durchsuchung des Einfamilienhauses durch die Polizei per Anzeige wegen Verletzung der Menschenwürde und Freiheitsberaubung: „Zielstrebig wird unter Missachtung der Grundrechte meines Landes nicht nur die gesamte Familie, vielmehr mein Land weiter verletzt. Eine Wiederherstellung wird mehrere Menschenleben erfordern.“ Mit Bezug auf den rassistischen Bestseller von Thilo Sarrazin schreibt er in der Anzeige, „dass diesbezüglich mein Land abgeschafft ist“. Die Munition und die Tatwaffen, mit der sein Sohn neun Menschen ermordete, forderte er – erfolglos – zurück.
Weitere Anzeigen und Beschwerden gehen im Laufe des Jahres 2020 beim Generalbundesanwalt und der Stadt ein. Unter anderem behauptet der Vater, dass die öffentliche Trauerfeier der Stadt am 4. März 2020 für die Opfer seines Sohnes den Tatbestand der Volksverhetzung erfülle, als Oberbürgermeister Claus Kaminsky sagte, „Die Opfer waren keine Fremden“, habe er eine Straftat begangen. Womöglich am perfidesten ist ein Antrag bei der Stadt Hanau, in dem er die „Entfernung sämtlicher in den öffentlichen Raum gestellter Volksverhetzungen, Gedenkstätten, Beflaggung am Tatort“ fordert. Teilnehmer einer Mahnwache für die Anschlagsopfer bezeichnete er als „wilde Fremde“, die sich „dem deutschen Volk“ unterordnen müssten.
Den Hinterbliebenen der Opfer und den Überlebenden des Anschlags hat das übrigens lange niemand mitgeteilt. Sie wussten erst seit Dezember 2020 von den menschenverachtenden Anzeigen des Vaters. In einer Dokumentation der ARD berichtet dafür Piter Minnemann, einer der Überlebenden, über den Umgang der Behörden mit den Opfern: „Nachdem der [Vater] aus der psychiatrischen Behandlung damals entlassen wurde, bekamen wir, ich, die Überlebenden, die Angehörigen, Gefährderansprachen. Wir sollen uns dem Vater doch ja nicht nähern, ansonsten habe das schwere Konsequenzen für uns. Jetzt frag‘ ich mich, wer hier in Deutschland eigentlich wen schützt. Warum haben wir keine Gefährdetenansprache bekommen, warum hat die Polizei uns nicht gesagt, dass der Mann seit April solche Äußerungen von sich gibt, dass von diesem Mann aus eine Gefahr besteht?“
Die Hinterbliebenen und Überlebenden der Terrortat hatten Anzeige gegen den Vater erstattet. Sie warfen ihm Beihilfe zum Mord oder Nichtanzeige geplanter Straftaten vor. Demnach habe der Vater zum Tatabend falsche Aussagen gemacht. Er hatte behauptet, früh ins Bett gegangen zu sein. Ein Zeuge hat ihn allerdings dabei beobachtet, wie er nach der Tat um 22:30 Uhr mit einer Taschenlampe in das vor der Tür des Einfamilienhauses geparkte Auto des Sohnes geleuchtet habe. In der Tatnacht wurde außerdem mehrmals vom Computer des Vaters aus auf die Website seines Sohnes mit dessen „Manifest“ zugegriffen.
Im Dezember 2021 stellte die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen zur Terrortat ein. Der Täter habe allein gehandelt, niemand — auch nicht der Vater — habe im Vorfeld über den geplanten Mord Bescheid gewusst. Anhaltspunkte für Mittäter oder Mitwisser des Anschlags gäbe es keine. Die Überschneidungen im Weltbild von Vater und Sohn „mit extremistischen und verschwörungstheoretischen Tendenzen“ begründe keine Mitwisserschaft heißt es in der Erklärung der Bundesstaatsanwaltschaft.
Verurteilt wurde der Mann im Oktober 2021 aber wegen Beleidigung. 5.400 Euro Strafe muss er wegen seiner Äußerungen über die Hinterbliebenen und die Polizei zahlen.
Letzte Hoffnung Untersuchungsausschuss
Die Ermittlungsergebnisse der örtlichen Behörden und der Bundesstaatsanwaltschaft haben nicht die Antworten geliefert, die sich Angehörige und Betroffene der Terrortat erhofft haben. Viel zu viele Details wurde nicht geklärt oder fallengelassen. Egal ob es um den unbesetzten Notruf geht, die möglicherweise verschlossene Tür oder den Vater des Täters. Im Juli 2021 hat der hessische Landtag mit den Stimmen aller Fraktionen, ausser der AfD, einen Untersuchungsausschuss eingesetzt, der die offenen Fragen beantworten soll. Das Gremium wird noch bis 2023 tagen und schließlich einen Bericht veröffentlichen. Dabei soll es auch das Versagen von Staat und Behörden gehen.
Hoffnung liegt auch auf Innenministerin Nancy Faeser (SPD). Zwar hatte ihr Vorgänger Horst Seehofer (CSU) immer wieder — auch nach den Morden von Hanau — davon gesprochen, dass Rechtsextremismus die größte Gefahr für Deutschland darstelle. Doch zu mehr als warmem Worten hatte es während der großen Koalition nicht gereicht. Weder das Demokratiefördergesetz wurde verabschiedet, eine Verschärfung der Waffengesetze gab es nicht, eine Studie zum Rassismus bei der Polizei wurde vertagt und verwässert.
Unter Faeser könnte sich das ändern. Bewegung zeigt sich zum Beispiel bei Telegram. Das Innenministerium ist im Gespräch mit dem Messengerdienst. Mehrere Hasskanäle wurde mittlerweile gelöscht. „Wir setzen alles daran, den Nährboden für rechtsextreme Gewalt auszutrocknen“, sagte Faeser in einer Aktuellen Stunde des Parlaments zum zweiten Jahrestags der Terrorattacke von Hanau. Die Tat sei ein „tiefer Einschnitt für unser Land“.
Und tatsächlich hat sich Faeser, die damals Innenpolitikerin in Hessen war, für die Angehörigen der Tat eingesetzt und ihnen zugesichert, für Aufklärung zu sorgen. Kurz nach dem Anschlag traf sie sich mit Angehörigen. „Das Treffen war ein gutes Zeichen“, sagte Vater Armin Kurtović der taz. „Ich glaube, dass sie unsere Sorgen wirklich ernst nimmt und sich um Taten bemüht.“
In einem Livegespräch auf Instagram mit Said Etris Hashemi, dem Bruder eines Opfers, geht die Ministerin auf die Versäumnisse ein: „Aufklärung hat nicht stattgefunden“. Deswegen sei es umso wichtiger, dass der Untersuchungsausschuss Klarheit bringe. Sie macht deutlich, wie sehr der Anschlag die Politik bestimmen muss: „Für mich als Hessin ist der Anschlag von Hanau das Schlimmste, was ich je erlebt habe.“ Einen Aktionsplan inklusive schärferem Waffenrecht und der Möglichkeit Verfassungsfeinde leichter aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen, hatte sie bereits bei ihrer Antrittsrede im Bundestag angekündigt.
Am Samstag wird Faeser an der Gedenkfeier auf dem Hauptfriedhof in Hanau teilnehmen. Hamza Kurtović, Ferhat Unvar und Said Nesar Hashemi liegen dort begraben. Horst Seehofer hatte zum ersten Jahrestag 2021 einen Tweet abgesetzt.