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Zwei Wochen, die Dessau überforderten

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Glaubt man Dessaus parteilosem Bürgermeister Klemens Koschig, dann war es am vergangenen Samstag ganz leicht, die Demokratie zu verteidigen. Die Einwohner mussten an keiner Mahnwache teilnehmen und keine Unterschrift leisten. Sie brauchten nichts anderes zu tun, als einer Demonstration gegen Gewalt fern zu bleiben. Wenn man so zählt, hat Dessau-Roßlau ein überzeugendes Zeichen gesetzt: Annähernd einhundert Prozent der Bürger folgten Koschigs Aufruf.

Doch wer an diesem nasskalten Samstagabend in die Stadt kommt, sieht das nicht. Er sieht stattdessen fast 400 Menschen durchs Dunkel marschieren, deren Botschaft so klar beim Empfänger ankommt, dass sie weder Transparente noch Sprechchöre brauchen: Ausländer, passt auf!

Seit zwei Wochen stimmt nichts mehr in Dessau. Die kleine Stadt mit der großen Bauhaus-Geschichte erlebte innerhalb kurzer Zeit eine Reihe von Gewaltakten. Die Stimmung drohe zu eskalieren, heißt es in der Stadtverwaltung und bei Bürgerinitiativen. Die Stadtoberen wirken konzeptlos, während Neonazis mit beängstigendem Geschick versuchen, den Bürgern ihren Begriff von Ruhe und Ordnung anzudienen.

Die Ereigniskette beginnt am 7. Januar, auf der alljährlichen Demonstration zum Todestag des Asylbewerbers Oury Jalloh, der vor sieben Jahren unter fragwürdigen Umständen in einer Dessauer Arrestzelle verbrannte. Die Polizei wittert Verleumdung auf einem Transparent mit der Aufschrift „Oury Jalloh ? das war Mord“. Beim Versuch, es zu konfiszieren, bricht ein Gerangel aus, die Polizisten knüppeln sich den Weg zum Schild frei. Der Einsatz hinterlässt einen Schwerverletzten.

Die Schuldfrage ist schnell geklärt: Der Satz ist von der Meinungsfreiheit gedeckt, bestätigt die Staatsanwaltschaft. Die Magdeburger Polizei beginnt Ermittlungen gegen ihre Kollegen, Bürgermeister Koschig kritisiert den Einsatz, CDU-Innenminister Stahlknecht lässt alle Polizisten des Landes in einem Rundbrief wissen, dass das deutsche Recht auch für sie gelte. Die Situation scheint vorerst befriedet.

Ein Brandanschlag, dann ein Messerangriff

Dann aber schlägt ein Brandsatz in einem Polizeirevier ein. Die Täter ? von ihnen fehlt jede Spur ? sprühen höhnisch jenen Satz an eine Wand, dessen Legalität eben erst bestätigt wurde: „Oury Jalloh ? das war Mord“. Aus der Aktion spricht erschreckend grundsätzliche Feindseligkeit.

Schon diese Auseinandersetzung ist ziemlich groß für eine Stadt von 75.000 Einwohnern. Doch zwischen dem Polizeiübergriff und dem Brandschlag geschieht etwas, das die Beteiligten gänzlich ratlos macht.

Am helllichten Tag liegt der Fußballspieler André Schubert blutend vor einer McDonalds-Filiale. In seinem Kopf steckt eine Messerklinge. Schubert soll kurz zuvor einem Mann zur Hilfe geeilt sein, der von einem afrikanischen Asylbewerber überfallen wurde. Dieser habe zugestochen ? Schubert wird mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus gefahren, der mutmaßliche Täter festgenommen.

So ein Ereignis hätte überall aggressive Verallgemeinerungen und irrationale Wut ausgelöst. In Dessau aber geht es weiter. Noch am Abend des 16. Januar ziehen Hunderte durch die Straßen. Nicht nur emotionalisierte Kleinbürger, wie ein Handyvideo zeigt. Ein Teil der Prozession gröhlt den NPD-Slogan „Kriminelle Ausländer raus, raus, raus“. Mehrere Zeugen hören auch den schon vergessenen Ruf „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus!“.

Rechtsextreme mobilisieren für die Demo

Anmelder des Umzugs ist Ralf Pflug, ein Mann mit rechtsextremen Ansichten und einer Vorstrafe wegen zweifacher Körperverletzung. Das rechtsextreme „Freie Netz“ hatte am Nachmittag via Twitter zur Teilnahme mobilisiert. Dutzende Neonazis sollen sich unter die Demonstranten gemischt haben.

Die lokalen Medien reagieren konfus. Die Mitteldeutsche Zeitung erwähnt Pflugs fragwürdigen Hintergrund und die „Ausländer raus“-Rufe zunächst nicht. Ähnlich der örtliche Fernsehsender, der überschwänglich die Friedfertigkeit der Demonstranten unterstreicht. Erst als der MDR über die Ausfälle berichtet, spricht sich herum, dass Neonazis mit diesem hochsensiblen Thema nach Meinungsführerschaft streben.

Unbekannte kündigen derweil auf Facebook zum gestrigen Samstag eine neue Demonstration an ? nicht gegen Ausländer, sondern gegen Gewalt. Der Aufruf kommt ausgleichend daher, eine Einladung an all jene, die ihre Stadt nicht mehr wiedererkennen. Die NPD fordert zur Teilnahme auf.

Als zwischenzeitlich die Berliner Afrodeutschen-Initiative „Gedenken an Oury Jalloh“ einen Aufmarsch gegen den „rassistischen Nazi-Bürger-Mob“ ankündigt, wächst unter Parteien und Initiativen die Furcht, Dessau könnte an diesem Tag Schauplatz eines Straßenkampfes werden. Schließlich entscheidet sich Bürgermeister Koschig, den Bürgern gleich von jedweder Kundgebung abzuraten. Die Facebook-Demo soll auf verschlossene Fensterläden treffen.

Unter diesem Eindruck sagt auch das lokale Anti-Rechtsextremismus-Bündnis seine Mahnwache ab. Nach zwei Wochen der Verunsicherung können die demokratischen Kräfte der Stadt sich nur noch auf den Aufruf des Runden Tisches der Religionen einigen: Keine Gewalt!

400 Menschen folgen dem Facebook-Aufruf

Die Vierhundert treffen am Samstag auf keine Gegendemo, keine Blockade, keine „Nazis raus“-Rufe. Am Straßenrand steht stattdessen viel Gleichmut mit Einkaufstaschen. In der Menge der Demonstranten sind zwar ausgemachte Neonazis zu sehen, aber auch Teenagergruppen und ältere Bürger. Die Stimmung im Zug ist entspannt ? „Nimm Dir keinen Ausländer zum Freund“, rät ein Mädchen seiner Freundin.

Den sogenannten Spontanaufzug hat nach Angaben des Ordnungsamtes Ronny Besch angemeldet. Er hat mehrere Jahre Haft wegen eines lebensgefährlichen Angriffs auf zwei linksalternative Jugendliche hinter sich. Als der Zug am Bahnhof ankommt, spricht ein halbvermummter Mann ins Mikrofon. Er redet feurig und benutzt Worte, die nicht recht zu einer Demonstration gegen Gewalt passen wollen. „Schnauze voll“, „Medienhetze“. Er sagt auch, dass die Demo gegen Gewalt jetzt alle zwei Wochen stattfinden soll.

Die Polizei und Bürgerinitiativen geben später bekannt, dass unter den Demonstranten etwa 50 bekannte Neonazis waren, hauptsächlich aus dem Umland. Und der Rest? Der begeisterte Beifall, den der Redner erhielt, erlaubt zwei Schlüsse: Entweder waren das auch Rechtsextreme. Oder der Ton des Mannes gefällt auch den anwesenden normalen Bürgern.

Noch am selben Abend kesselt die Polizei 50 Neonazis ein, nachdem die in einem Einkaufszentrum „Ausländer raus“-Parolen brüllten. Hat sich Koschig da gefragt, ob er und die anderen Dessauer Demokraten doch mehr tun müssen, als nicht auf derselben Demo wie die Neonazis zu erscheinen? Er glaubt, dass die Strategie richtig war ? schließlich habe es keine Gewalt gegeben. Das Problem, sagt er im Gespräch, sei gewesen, dass man die Facebook-Gruppe nicht in ein Konzept gegen die Neonazis habe einbinden können.

Dieser Text erschien zuerst auf ZEIT online. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.

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