Es klingt so romanisch, ja so romantisch, wenn man es mit einer betont gallischen Aussprache artikuliert: „C’est fini, ça suffit!“ In den letzten Tagen wird diese Interjektion allerdings mit wutverzerrter Miene über die Lippen gebracht, und zwar namentlich in den Vororten der französischen Hauptstadt. Unterdrückte Bürger geben damit zu erkennen: „Es reiche jetzt!“ Diese Ansicht war schon mal das Signal für das Einläuten einer neuen Epoche. Der Wandel, wonach das verarmte, ausgebeutete Volk sich damals sehnte, war auf lange Sicht sowieso nicht mehr aufzuhalten. Wie auch heute.
Die Idee, deren Zeit gekommen ist
Marginalisierte Menschen fordern Teilnahme und Toleranz. Aufklärerische Denkweisen und mobilisierende Schlachtparolen verbreiten sich wie ein Laufbrand und stellen neue Fragen an die alten Strukturen der Macht. Es handelte sich dabei um Erkenntnisse und Erwartungen, die aufflammten, als es die sozialen Medien des Internetzeitalters noch lange nicht gab. Die Ansprüche waren ebenso bescheiden wie bahnbrechend: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Wie kann man ernsthaft dagegen sein, wenn man eine zukunftsfähige Gesellschaft auf die Beine stellen will?
Die zahlreichen Revolutionär*innen, die sich 1789 gegen Marie Antoinette (als Erzherzogin Maria Antonia von Österreich geboren) gewaltsam erhoben, werden auch nach 234 Jahren fast universal als Held*innen verehrt. So weit, so gut. Schwarze und muslimische Menschen, die sich aktuell in Frankreich gegen die tödliche Unterdrückung rebellieren, gelten dahingegen als Verbrecher*innen. Das, obwohl sie selbst gegen Kriminalität protestieren.
Der 17-jährige Schwarz Nahel (auch „Naël“ geschrieben) Merzouk wurde am 27. Juni infolge einer Polizeikontrolle in Nanterre an der Seine erschossen. Bereits im vorigen Jahre 2022 waren offiziell 13 Autoinsassin*innen aus eher banalen Beweggründen von der Polizei getötet worden. Diesmal, vor einer Woche, war Nahel dran. Ja, der Teenager war schon „ein polizeibekannter Schulabbrecher“, wie ein Organ der Springer-Presse berichtet, und das passt gewissermaßen gut ins Bild des „Problemkindes“. Die Vorgehensweise der französischen Polizei ruft in der deutschen BIPoC-Community zwangsläufig den Fall des August 2022 in Dortmund von der Polizei in Dortmund erschossenen Jungen Mohammed D.
Ungeachtet dessen lassen nun nach Nanterre konservative Kommentatoren keine Zeit verstreichen. Es ginge nicht um Rassismus, sondern um die Einhaltung der Verkehrsregeln. Wiederholt verfemen sie Protestierende pauschal als Plündernde. Zudem wird mutwillig kolportiert, Nahel sei eh „mehrfach vorbestraft“ worden. Ebenjene Behauptung stimmt wiederum nicht. Denn Nahel, obwohl polizeibekannt, war noch nicht verurteilt worden. Erst September 2023 sollte er vor Gericht erscheinen, wie auch Jennifer Cambla, Rechtsanwältin der Familie Nahels, betont.
Bei Konservativen gilt die Unschuldsvermutung jedoch durchaus für tatverdächtige weiße Polizist*innen, die mutmaßlich unrechtmäßig auf einen Schwarzen schießen. Der Schütze sei für sie ein Held. So betrachten sie es als ungerecht, dass der 38 Jahre alte Beamte wegen Verdachts auf vorsätzlicher Tötung jetzt in Untersuchungshaft sitzt. Ihm winken bei einer Verurteilung bis zu 30 Jahre Zuchthaus zu.
Das sei alles so ungerecht. Denn der Schießwütige ist ein Infanterie-Veteran des Krieges in Afghanistan und wurde später im Streifendienst sogar zweimal mit Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet. Mit seinem abgegebenen Schuss, so seine Fürsprecher*innen, habe er Passanten vor dem mit dem Auto wegrasenden 17-Jährigen schützen wollen. Warum es dem erfahrenen Schützen nicht in den Sinn kam, eher auf die Autoreifen als auf den Jungen zu zielen, wird irgendwie nicht beantwortet. Dafür sind die Fans von Florian M. offenbar zu sehr damit beschäftigt, Spenden für ihn und seine Familie über die Plattform GoFundMe zu sammeln. Dahinter steckt bzw. steht mit allem Stolz ein gewisser Akteur namens Jean Messiha, der früher als Berater Marine Le Pens tätig war. Messiha ist zudem ein Unterstützer des rechtsextremen Politikers Éric Zemmour und Mitglied in dessen Partei Reconquête („Rückeroberung“).
Gemäß den Nutzungsbedingungen von GoFundMe ist eigentlich verboten, Geld für die rechtliche Verteidigung bezüglich jener Straftaten, die als Finanz- oder Gewaltverbrechen gelten, zu sammeln. Doch GoFundMe erklärt in einem Statement gegenüber Euronews, die Spendenaktion sei „nach aktuellen Vorgaben“ regelkonform, da das Geld nicht direkt an Florian M., sondern an seine Familie ginge. So, so. Mittlerweile sind 1,5 Millionen Euro zusammengekommen, aktuell rund dreimal so viel wie für die Hinterbliebenen Nahels.
Auch die deutsche Bloggerin und freie Journalistin Anabel Schunke (Tichys Einblick und Weltwoche) greift das Thema auf. In ihrem Online-Profil erteilt Schunke einen GoFundMe-Link, damit man dem inzwischen angeklagten Tatverdächtigen finanziell unter den Armen greifen kann. Sie erklärt dabei: „Weil einige gefragt haben: Hier kann man für den Polizisten von #Nanterre und seine Familie spenden.“ Darüber hinaus gibt sie wortwörtlich von sich: „Stell dir vor, du bist Franzose, erlebst einen islamistischen Anschlag nach dem anderen in den letzten Jahren und dann zerlegen ,Franzosen’ mit Migrationshintergrund seit Tagen dein Land und sehen sich auch noch als Opfer. […] Gott hätte ich die Schnauze voll.“
Der letale Luxus der Geschichtsvergessenheit
Mit einem lupenreinen Gewissen und einem gekrümmten Finger zeigt man hierzulande auf das „Multi-Kulti-Chaos“ in Paris. Das, was sich ebenda abspielt, ist aber eine direkte Folge der Verbrechen, die im Namen der weißen Vorherrschaft gegen andere Völker generationenübergreifend verübt wurden.
Heute mauern sich europäische Staaten wieder ein, um sich vor den Konsequenzen ihrer blutigen Vergangenheit zu schützen. Sie lassen in Sichtweite ihrer Strände unerwünschte Schiffbrüchige scharenweise ertrinken. Es sind jene Länder, die sich kollektiv als Friedensnobelpreisträger feiern lassen. Einst „überfremdete“ Europa zahlreiche überseeische Länder. „Schutztruppen“ begingen fern der Heimat Völkermord. Aus Afrika holten die Clan-Kriminellen des Kaisers und die Hehler der Hanseaten alles, was nicht niet- und nagelfest war, und sie bauten im Vaterland Menschenzoos und majestätische Museen rund um ihr Diebesgut herum.
Wenn die heute in Ghettos eingepferchten Nachfahren der früheren Geschädigten sich erdreisten, eine Wiedergutmachung zu verlangen, werden ihre Forderungen mit Sonntagsreden und mit süffisantem Achselzucken quittiert. Ähnlich wie beim Tabu-Thema des rechtsextremistischen Terrors. Aber die besorgte Bürgerschaft erklärt sich selbst als reflexhaft Opfer, anstatt reflektiert über Ursache und Wirkung nachzudenken.
Hunderte Festnahmen, rund 40.000 Polizist*innen in erhöhter Alarmbereitschaft. Der Ausnahmezustand bestätigt die Regel: Es ist wohl unwahrscheinlich, dass die Situation rechtzeitig zum Nationalfeiertag, der am 14. Juli den Sturm auf die Bastille erinnert, gelöst sein wird. Nein, dies ist Frankreichs George-Floyd-Moment, und dieser Moment gewinnt an Momentum. Autos und Mülltonnen brennen, Rathäsuer werden angegriffen – alles, auch wenn Nahels Großmutter ausdrücklich darum bittet, mit den Krawallen aufzuhören. Eine Bitte, die übrigens seitens rechter Medien kaum erwähnt wird.
Als Nahel tödlich angeschossen wurde, schimpfte der zum Tatort herbeigeeilte Sanitäter, ein Mann der Community, einer, der den Jungen persönlich kannte. Der Sanitäter brüllte: „Du wirst nicht mehr ruhig leben, Bruder!“ Seinen Zorn richtet er allerdings auf den nun in Untersuchungshaft sitzenden Polizisten und mahnte, derweil eine Frau seinen Ausraster filmte: „Du siehst ein Kindesgesicht. Für einen Verstoß gegen die Fahrerlaubnis!“ Dann schließt er mit: „Alle sind gerade auf dem Wege ins Bett. Ihr werdet sehen, wie Nanterre aufwachen wird.“ Eine Prophezeiung, die sich seither tagtäglich bewahrheitet. Paris brennt wieder. Ganz Frankreich sogar.