Im März 2021 hoffte der AfD-Politiker Peter Boehringer auf den „Schulterschluss mit 30 bis 50 Prozent Impfskeptikern oder 40 Millionen Menschen da draußen“. Auch er wusste wohl, was in der Politikwissenschaft als Binsenweisheit gilt: In Krisenzeiten nimmt die Unterstützung für populistische Parteien zu. Letztendlich kam es anders. Die AfD konnte ihre Unterstützungsbasis nicht vergrößern, bei der Bundestagswahl im September 2021 verlor sie sogar 2,3 Prozentpunkte. Eine Studie der Uni Kiel erklärt das so: Die Unterstützungsbasis der Partei sei in Fragen der Corona-Politik tief gespalten gewesen. Maßnahmen-Befürworter*innen wandten sich von der AfD ab.
Längst befinden wir uns mitten in einer weiteren Krise. Seit März 2022 liegt die Inflationsrate in Deutschland bei über sieben Prozent. Die Nachfrage der Konsument*innen hat nach den ersten Pandemie-Jahren wieder zugenommen. Gleichzeitig sind Lieferketten weltweit noch immer gestört und Produktionskosten gestiegen. Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine führte zu einer zusätzlichen Verknappung des Angebots – vor allem bei Energie und Getreide. Für viele Menschen ist die starke Teuerung derzeit die größte Sorge. Besonders Menschen mit einem geringen Einkommen, das vorher schon kaum zum Leben reichte, stehen vor einem existenziellen Problem. Der AfD-Politiker Boehringer macht sich wieder Hoffnungen. „Es kann ein dunkelkalter und damit politisch-gesellschaftlich heißer Herbst werden“, schreibt er auf Telegram. Wird die AfD diesmal von der Krise profitieren?
In Thüringen wäre die Partei, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft wird, schon jetzt stärkste Kraft. Dort liegt sie in Umfragen aktuell bei 25 Prozent. Im DeutschlandTrend legten die Rechtspopulisten Anfang August um zwei Punkte auf dreizehn Prozent zu.
Seit Monaten hat sich die Partei in Stellung gebracht. Ende April 2022 startete der Bundesverband die Kampagne „Preistreiber stoppen!“. Die Botschaft: „Energiewende, Euro, Lockdown: Die Inflation ist hausgemacht.“ Durch Baden-Württemberg tourte im Juni ein Infomobil, das dem AfD-Landesverband zufolge die Bürger*innen vor allem an eines erinnern soll: „Die Preisexplosion ist nicht vom Himmel gefallen, sondern direkte Folge der Regierungspolitik!“ Die AfD-Bundestagsfraktion, die bereits im Oktober 2021 ein Eckpunktepapier mit „Sofortmaßnahmen gegen die sozialen Folgen der Inflation“ beschlossen hatte, veröffentlichte Anfang Juli schließlich einen professionellen Werbefilm. „In unserem Dokumentationsfilm ‚Teuro total – Deutschland am Limit‘ lassen wir Bürger zu Wort kommen und zeigen die Lösungsansätze gegen die grassierende Inflation auf“, heißt es im Begleittext. Doch der Film dokumentiert vor allem eines: die falschen und gefährlichen Narrative der AfD rund um das Thema.
Der Koch Oliver W. erzählt in Teuro Total, dass er mittlerweile trotz seiner Anstellung als zweiter Küchenchef Pfandflaschen sammle. Die Taxifahrerin Manuela H. klagt über hohe Spritpreise und fragt sich, ob sie als Rentnerin in eine Wohngemeinschaft ziehen muss, weil sie die Miete sonst nicht mehr zahlen kann. Jacqueline G. spricht darüber, dass ihr als Frührentnerin mit geringem Einkommen die soziale Teilhabe verwehrt wird. Die Berichte sind erschütternd. Aber Jacqueline G. sagt auch: „Das soll keinesfalls rassistisch oder abwertend gegenüber fremden Menschen klingen, ganz im Gegenteil: Wenn wir helfen können, sollten wir das tun, aber wir sollten auf keinen Fall hingehen und die eigenen Menschen in unserem Land vergessen. Und das ist das, was passiert.“
Drei Abgeordnete der AfD-Fraktion greifen die Schilderungen der Bürger*innen auf und werben in kurzen Statements für die Vorschläge der Partei. Außerdem werden sie bei einer angeblich nicht gestellten Arbeitssitzung gezeigt. Einer der drei AfD-Politiker ist eben jener Peter Boehringer. Er ist haushaltspolitischer Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion und vertritt Verschwörungserzählungen: von der „Neuen Weltordnung”, an der die Eliten arbeiteten, und dem „Großen Austausch”. So schrieb er zum Beispiel 2015 auf seiner Website: „Und alleine nur wegen der laufenden, irreversiblen Umvolkung in der BRD, das heißt des permanenten Austauschs des deutschen Staatsvolks durch zu 98 Prozent illegale Eindringlinge aus weitgehend muslimischen Herkunftsstaaten, ist die heutige, supranationalen Befehlen gehorchende BRD-Führungsclique inzwischen krimineller als die kommunistische der DDR, die ja schon schlimm genug war!“
Auch der Sprecher für Arbeit und Soziales, René Springer, und der finanzpolitische Sprecher der Partei Kay Gottschalk kommen in dem Film zu Wort. Beide sind in der Vergangenheit dadurch aufgefallen, wen sie im Bundestag beschäftigt haben: Jean-Pascal Hohm arbeitete für René Springer. Er war Teil einer rechtsextremer Preppergrupper und pflegte Kontakte zur „Identitären Bewegung“. Kay Gottschalk hat dieses Jahr Christian Lüth eingestellt. Der langjährige Pressesprecher der AfD war 2020 entlassen worden, nachdem seine menschenverachtenden Äußerungen bekannt geworden waren. Er hatte davon gesprochen, Migrant*innen „erschießen” oder „vergasen” zu wollen. Außerdem sagte er: „Wir müssen dafür sorgen, dass es Deutschland schlecht geht.” Je schlechter es Deutschland gehe, desto besser sei das für die AfD.
Boehringer, Springer und Gottschalk spinnen die Erzählung von der hausgemachten Inflation weiter und bedienen die immer gleiche Formel: Energiewende, Euro, Lockdown. Boehringer sagt: „Bei einer Geldmengensteigerung von ungefähr dem Zehnfachen in den letzten 20 Jahren, seitdem der Euro besteht, ist das die Ur-Ursache.“ Anders als noch bei Corona spricht die AfD diesmal mit einer Stimme.
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine als einer der Haupttreiber der Inflation bleibt in der Doku unerwähnt. Die Partei bleibt so ihrem Russland-freundlichen Kurs treu. Noch ist die AfD mit dieser Haltung weitgehend isoliert. Partei-Chef Tino Chrupalla rechnet jedoch damit, dass die allgemeine Zustimmung zum Russland-Kurs seiner Partei wachsen werde, wenn die Preise weiter steigen. Vor diesem Hintergrund behauptet die AfD: Die hohen Inflationsraten seien von Bundesregierung, EU und Zentralbank nicht nur verursacht, sondern auch gewünscht.
Durch das Aussparen externer Ursachen der Inflation wird ein klarer Gegensatz konstruiert, an den Verschwörungserzählungen anknüpfen können: bösartige Eliten gegen den kleinen Mann. An der Seite des kleinen Mannes: die AfD. Dass es ihr vor allem darum geht, vereinfachende Erklärungen und personifizierbare Sündenböcke anzubieten, lässt sich auch am Narrativ der „Gelddruckmaschine EZB” zeigen. Die Auffassung, die die AfD so prominent wie vehement vertritt, dass die Geldmenge bei der Inflation eine zentrale Rolle spiele, gilt unter Expert*innen als überholt. Da die Inflation aktuell vor allem durch die Knappheit von Gütern angetrieben werde, sei der Einfluss der EZB sowieso begrenzt, sagte der Ökonom Michael Voigtländer vom Institut der Deutschen Wirtschaft im Deutschlandfunk.
Unter dem Etikett der Wirtschafts- und Sozialpolitik mobilisiert die AfD also weiter gegen den Euro, die Corona-Maßnahmen und den Klimaschutz (Stichwort: „Grüne Inflation”) – und bespielt damit ihre alten Kerninhalte. „Seit einigen Jahren versucht die AfD, sich von ihrem Image als neoliberale ‚Professoren-Partei‘ zu befreien und stattdessen als Kämpferin für soziale Gerechtigkeit und ‚den kleinen Mann‘ aufzutreten“, schreiben die Autoren einer Analyse der Wirtschafts- und Sozialpolitik der AfD für die Otto-Brenner-Stiftung. Das funktioniert: Unter Gewerkschaftsmitgliedern erzielt die Partei regelmäßig überdurchschnittliche Wahlergebnisse. Die Auswertung der Stiftung belegt jedoch: „Die soziale Rhetorik ist die oberflächliche Fassade einer Partei, die in ihren wirtschaftspolitischen Vorstellungen fest in neo- und ordoliberale Denktraditionen eingebunden bleibt“.
Diese Analyse lässt sich zu großen Teilen auf die aktuellen Forderungen der AfD übertragen. Ein Hauptanliegen der AfD sind pauschale Steuersenkungen. Sie fordert zur Bekämpfung der Inflation unter anderem, die Mehrwertsteuer vorübergehend auszusetzen und die kalte Progression abzuschaffen. Wenn Gehaltserhöhungen niedriger ausfallen als die Inflationsrate, kann die kalte Progression dazu führen, dass das Realeinkommen sinkt, weil ein höherer Steuersatz fällig wird. Beides sind Vorhaben mit sozialer Fassade. Menschen mit geringem oder mittlerem Einkommen würden durchaus entlastet werden. In absoluten Zahlen würden Spitzenverdiener*innen aber am allermeisten profitieren. Zu gleichen Kosten könnten diejenigen Menschen, die darauf tatsächlich angewiesen sind, viel zielgenauer unterstützt werden.
Zwar fordert die AfD auch, die Grundsicherung und den Mindestlohn an die Inflation zu koppeln, um so ein in etwa gleichbleibendes Niveau der Kaufkraft zu gewährleisten. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Partei weiterhin Sozialneid nach unten schürt, indem sie unterprivilegierte Gruppen gegeneinander ausspielt. Als im Juni 2022 die Erhöhung des Mindestlohns im Bundestag verhandelt wurde, enthielt sich die AfD. Die vielen ausländischen Arbeitskräfte in Deutschland beförderten die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und drückten das Lohnniveau, behauptete sie. „Ein gesunder Markt bräuchte keinen Mindestlohn, er hat nämlich Regeln, und er hat Grenzen“, sagte der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter.
Auch in Teuro Total sollen Menschen im Niedriglohnsektor gegen eine andere unterprivilegierte Gruppe aufgebracht werden: Hartz-IV-Empfänger*innen. Das Lohnabstandsgebot, das Kay Gottschalk anmahnt, mündet nicht etwa in der Forderung nach höheren Löhnen, sondern der Kürzung von Sozialleistungen. „Und ich glaube, wir haben auch deshalb das Problem in Deutschland mit Hartz IV, dass es sehr gemütlich ist, wenn man sich dort vernünftig einrichtet“, sagt er. Springer warnt: „Das hat ein Konfliktpotenzial in sich, das sehr schnell abgebaut werden muss, bevor es sich politisch und gesellschaftlich entlädt.”
Ihre neoliberale Agenda versucht die Partei mit nationalistischer Rhetorik zu kaschieren. Schließlich komme ihre Politik allen Deutschen zugute. Nationalismus fungiert zudem als Bindeglied zwischen den wirtschaftsliberalen und völkischen Bestrebungen innerhalb der AfD. Beide Strömungen, die in der Sozialpolitik eigentlich gegensätzliche Positionen vertreten, können sich darauf einigen, Migration und südliche EU-Länder, die angeblich über ihre Verhältnisse gelebt hätten, für die prekäre Situation aller „einheimischen” unteren Einkommensschichten verantwortlich zu machen. Deshalb fordert René Springer in der Doku auch eine „inländerfreundliche Politik”.Besonders viele Menschen haben Teuro Total allerdings noch nicht gesehen. Auf YouTube hat das Video knapp 25.000 Aufrufe erzielt. Aber für den Erfolg ihrer Kampagne ist die AfD auf den Film ohnehin nicht angewiesen. Seine Erzählung spinnen AfD-Politiker*innen längst weiter, in den sozialen Medien wie im Bundestag. Diese Reden werden wiederum hunderttausendfach angeklickt.
So sagte zum Beispiel der AfD-Abgeordnete Martin Reichardt Anfang Juli im Parlament: „Ideologisch verblendet stürzen Grüne unsere Heimat in Armut und Not. Was wir jetzt erleben, ist das Ergebnis ihrer verfehlten Außen- und Energiepolitik. Die Rechnung dieses ideologischen Wahns wird immer gigantischer. Und bezahlen werden diese Rechnungen dereinst die Menschen in Deutschland, so wie sie schon 1918 und 1945 die Zeche ideologischer Hybris bezahlen mussten.” Karsten Hilse bedient in seiner Rede offensiv die Verschwörungserzählung des „Great Reset“, wonach die Welt in eine sozialistische Öko-Diktatur gelenkt werde: „Damals [in der DDR; Anmerkung] wurde die Verelendung des Volkes billigend in Kauf genommen, heute ist sie Teil des von Eliten um Klaus Schwab geplanten Great Reset.“
Es ist, zugegeben, wenig überraschend: Die AfD, die nach außen vor einer gesellschaftlichen Spaltung warnt, beteiligt sich maßgeblich an ihr. Sie hetzt Personengruppen mit niedrigem Einkommen gegeneinander auf, nutzt rassistische Ressentiments und nicht zuletzt Verschwörungsmythen.
Laut dem ARD-DeutschlandTrend aus dem Juli 2022 waren über drei Viertel der Wahlberechtigten in Deutschland mit der Entlastung der Bürger wegen der steigenden Preise nicht zufrieden. In Ostdeutschland war die Unzufriedenheit noch größer. Mit wie vielen davon Peter Boehringer auf einen Schulterschluss hoffen kann, wird auch davon abhängen, inwieweit es der Regierung gelingt, die Belastungen der aktuellen Krise aufzufangen. Und davon, ob es Opposition und Gewerkschaften schaffen, das Protestpotenzial in demokratische Bahnen zu lenken. Dass die AfD-Unterstützungsbasis bei der Inflation so gespalten ist wie zuletzt bei den Corona-Maßnahmen, scheint derzeit unwahrscheinlich.